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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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aller Möglichkeiten des antiken Denkens. Auf der Ausdehnung der arithmetischen Gesetze über das ganze Gebiet des Komplexen, innerhalb dessen sie ständig anwendbar bleiben, beruht die Funktionentheorie, welche nun endlich die abendländische Mathematik in ihrer Reinheit darstellt, indem sie alle Einzelgebiete in sich begreift und auflöst. Erst damit wird diese Mathematik auf das Bild der gleichzeitig sich entwickelnden
dynamischen
Physik des Abendlandes vollkommen anwendbar, während die antike Mathematik das genaue Seitenstück jener Welt plastischer Einzeldinge darstellt, welche die
statische
Physik von Leukippos bis auf Archimedes theoretisch und mechanisch behandelt.
    Das klassische Jahrhundert dieser
Barockmathematik
– im Gegensatz zu der
ionischen Stils
– ist das 18., das von den entscheidenden Entdeckungen Newtons und Leibnizens über Euler, Lagrange, Laplace, d'Alembert zu Gauß führt. Der Aufstieg dieser mächtigen geistigen Schöpfung geschah wie ein Wunder. Man wagte kaum zu glauben, was man sah. Man fand Wahrheiten über Wahrheiten, die den feinen Köpfen eines skeptisch gestimmten Zeitalters unmöglich erschienen. Das Wort d'Alemberts gehört hierher:
Allez en avant et la foi vous viendra
. Es bezog sich auf die Theorie des Differentialquotienten. Die Logik selbst schien Einspruch zu erheben, alle Annahmen auf Fehlern zu beruhen, und man kam doch zum Ziel.
    Dies Jahrhundert eines sublimen Rausches in völlig abstrakten, dem leiblichen Auge entrückten Formen – denn neben jenen Meistern der Analysis stehen Bach, Gluck, Haydn, Mozart –, in dem ein kleiner Kreis gewählter und tiefer Geister in den köstlichsten Entdeckungen und Wagnissen schwelgte, von denen Goethe und Kant ausgeschlossen blieben, entspricht seinem Gehalte nach genau dem reifsten Jahrhundert der Ionik, dem des Eudoxos und Archytas (440-350) – man muß wieder hinzufügen des Phidias, Polyklet, Alkamenes und der Akropolisbauten –, in welchem die Formenwelt der antiken Mathematik und Plastik in der ganzen Fülle ihrer Möglichkeiten aufblühte und zu Ende kam.
    Jetzt erst läßt sich der elementare Gegensatz des antiken und abendländischen Seelentums ganz übersehen. Es gibt innerhalb des Gesamtbildes der Geschichte höheren Menschentums bei einer solchen Menge und Stärke historischer Beziehungen nichts innerlich Fremderes. Und eben deshalb, weil Gegensätze sich berühren, weil sie auf ein vielleicht Gemeinsames in der letzten Tiefe des Daseins verweisen, finden wir in der abendländischen, faustischen Seele jenes sehnsüchtige Suchen nach dem Ideal der apollinischen, die sie allein von allen andern geliebt und um die Kraft ihrer Hingabe an die sinnlich-reine Gegenwart beneidet hat.
11
    Es war bemerkt worden, daß in der Urmenschheit wie im Kinde ein inneres Erlebnis, die Geburt des Ich eintritt, mit welcher beide den Sinn der Zahl begreifen, mithin plötzlich eine auf das Ich bezogene Umwelt besitzen.
    Sobald vor dem erstaunten Blick des frühen Menschen diese ertagende Welt des
geordneten
Ausgedehnten, des
sinnvoll
Gewordenen sich in großen Umrissen aus einem Chaos von Eindrücken abhebt und der tief empfundene unwiderrufliche Gegensatz dieser Außenwelt zur eignen Innenwelt dem wachen Leben Richtung und Gestalt gibt, erwacht zugleich das
Urgefühl der Sehnsucht
in dieser sich plötzlich ihrer Einsamkeit bewußten Seele. Es ist die Sehnsucht nach dem Ziel des Werdens, nach Vollendung und Verwirklichung alles innerlich Möglichen, nach Entfaltung der Idee des eigenen Daseins. Es ist die Sehnsucht des Kindes, die als das Gefühl einer unaufhaltsamen
Richtung
mit steigender Deutlichkeit ins Bewußtsein tritt und später als das
Rätsel der Zeit
unheimlich, verlockend, unlösbar vor dem gereiften Geiste steht. Die Worte Vergangenheit und Zukunft haben plötzlich eine schicksalsschwere Bedeutung erhalten.
    Aber diese Sehnsucht aus der Überfülle und Seligkeit des innern Werdens ist in der tiefsten Tiefe einer jeden Seele zugleich
Angst
. Wie alles Werden sich auf ein Gewordensein richtet, mit dem es
endet
, so rührt das Urgefühl des Werdens, die Sehnsucht, schon an das andere des Gewordenseins, die Angst. In der Gegenwart fühlt man das Verrinnen; in der Vergangenheit liegt die Vergänglichkeit. Hier ist die Wurzel der ewigen Angst vor dem Unwiderruflichen, Erreichten, Endgültigen, vor der Vergänglichkeit, vor der Welt selbst als dem Verwirklichten, in dem mit der Grenze der Geburt zugleich die des Todes gesetzt ist, der

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