Der Untergang des Abendlandes
erzwungen wurde. So gestaltete sich die Entwicklung der neuen Mathematik zu einem heimlichen, langen, endlich siegreichen Kampf gegen den Größenbegriff. [Dasselbe gilt vom römischen Recht, vgl. Bd. II, S. 652ff., und der Geldmünze, vgl. Bd. II, S. 1175 f.]
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Antikisierende Vorurteile haben uns gehindert, die eigentlich abendländische Zahl als solche in neuer Weise zu bezeichnen. Die gegenwärtige Zeichensprache der Mathematik fälscht den Tatbestand, und
ihr
ist es vor allem zuzuschreiben, daß noch heute auch unter Mathematikern der Glaube herrscht, Zahlen seien Größen – denn auf dieser Voraussetzung ruht allerdings unsre schriftliche Bezeichnungsweise.
Aber nicht die zum Ausdruck der Funktion dienenden einzelnen Zeichen (x, π, 5),
die Funktion selbst als Einheit
, als Element, die variable, in optische Grenzen nicht mehr einzuschließende Beziehung ist die neue Zahl. Für sie wäre eine neue, in ihrer Struktur nicht von antiken Anschauungen beeinflußte Formelsprache nötig gewesen.
Man vergegenwärtige sich den Unterschied zweier Gleichungen – selbst dies Wort sollte nicht so verschiedenartige Dinge zusammenfassen – wie 3 x + 4 x = 5 x und x n + y n = z n (die Gleichung des Fermat'schen Satzes). Die erste besteht aus mehreren »antiken Zahlen« (Größen), die zweite ist
eine Zahl
von einer andern Art, was durch die identische Schreibweise, die sich unter dem Eindruck euklidisch-archimedischer Vorstellungen entwickelt hat, verdeckt wird. Im ersten Fall ist das Gleichheitszeichen die Feststellung einer starren Verknüpfung bestimmter, greifbarer Größen; im zweiten stellt es eine Beziehung dar, die innerhalb einer Gruppe variabler Gebilde besteht, derart, daß gewisse Veränderungen gewisse andere notwendig zur Folge haben. Die erste Gleichung bezweckt die Bestimmung (Messung) einer konkreten Größe, des »Resultates«; die zweite hat überhaupt kein Resultat, sondern ist nur Abbild und Zeichen einer Beziehung, die für n>2 – das ist das berühmte Fermatproblem
wahrscheinlich nachweisbar
ganzzahlige Werte ausschließt. Ein griechischer Mathematiker würde nicht verstanden haben, was man mit Operationen dieser Art, deren Endzweck kein »Ausrechnen« ist, eigentlich wollte.
Der Begriff der Unbekannten führt vollständig irre, wenn man ihn auf die Buchstaben der Fermatschen Gleichung anwendet. In der ersten, der »antiken«, ist x eine Größe, eine bestimmte und meßbare, die man zu ermitteln hat. In der zweiten hat für x, y, z, n das Wort »bestimmen« gar keinen Sinn, folglich will man den »Wert« dieser Symbole nicht ermitteln, folglich sind sie überhaupt keine Zahlen im plastischen Sinne, sondern Zeichen für einen Zusammenhang, dem die Merkmale der Größe, Gestalt und Eindeutigkeit fehlen, für eine Unendlichkeit möglicher Lagen von gleichem Charakter, die als Einheit begriffen erst
die
Zahl sind. Die
ganze
Gleichung ist, in einer Zeichenschrift, die leider viele und irreführende Zeichen verwendet, tatsächlich
eine
einzige Zahl, und x, y, z sind es so wenig, als + und = Zahlen sind.
Denn schon mit dem Begriff der irrationalen, der ganz eigentlich antihellenischen Zahlen ist im tiefsten Grunde der Begriff der konkreten, bestimmten Zahl aufgelöst worden. Von nun an bilden diese Zahlen nicht mehr eine übersehbare Reihe ansteigender, diskreter, plastischer Größen, sondern ein zunächst eindimensionales
Kontinuum
, in welchem jeder Schnitt (im Sinne Dedekinds) eine »Zahl« repräsentiert, die kaum die alte Bezeichnung führen sollte. Für den antiken Geist gibt es zwischen 1 und 3 nur
eine
Zahl, für den abendländischen eine unendliche Menge. Mit der Einführung der imaginärenund komplexen Zahlen (von der allgemeinen Form a + bi) endlich, welche das lineare Kontinuum zu dem höchst transzendenten Gebilde eines Zahlkörpers (des Inbegriffs einer Menge gleichartiger Elemente) erweitern, in dem nun jeder Schnitt eine Zahlebene – eine unendliche Menge von geringerer »Mächtigkeit«, etwa den Inbegriff aller reellen Zahlen repräsentiert, ist jeder Rest antik-populärer Greifbarkeit zerstört worden. Diese Zahlenebenen, die in der Funktionentheorie seit Cauchy und Gauß eine wichtige Rolle spielen, sind
reine Gedankengebilde
. Selbst die positive irrationale Zahl wiekonnte aus dem antiken Zahlendenken gewissermaßen wenigstens negativ konzipiert werden, indem man sie als Zahl
ausschloß
– als αρρητοσ und αλογοσ; Ausdrücke von der Form x + yi liegen aber jenseits
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