Der Untergang des Abendlandes
angehört, was seit Beginn unserer Zeitrechnung in der Landschaft des kommenden Islam entstanden ist. Gerade damals erblich vor dem neuen Raumgefühl der Kuppelbauten, Mosaiken und Sarkophagreliefs altchristlich-syrischen Stils der letzte Schatten der attischen Statuenplastik. Damals gab es wieder eine
archaische Kunst
und ein streng geometrisches Ornament. Damals gerade vollendete Diokletian den
Kalifat
des nur noch scheinbar römischen Reiches. 500 Jahre liegen zwischen Euklid und Diophant, zwischen Plato und Plotin, zwischen dem letzten abschließenden Denker – dem
Kant
– einer vollendeten und dem ersten Scholastiker – dem Duns Scotus – einer eben erwachten Kultur.
Hier berühren wir zum ersten Male das bisher unbekannte Dasein jener großen Individuen, deren Werden, Wachsen und Welken unter einer tausendfarbigen, verwirrenden Oberfläche die
eigentliche Substanz der Weltgeschichte
bildet. Das in römischer Intelligenz sich vollendende antike Seelentum, dessen »Leib« die antike Kultur mit ihren Werken, Gedanken, Taten und Trümmern ist, war um 1100 v. Chr. aus der Landschaft des ägäischen Meeres geboren worden. Die seit Augustus im Osten unter der Decke antiker Zivilisation keimende arabische Kultur entstammt durchaus dem Schöße der Landschaft zwischen Armenien und Südarabien, Alexandria und Ktesiphon. Als Ausdruck dieser neuen Seele hat man fast die gesamte »spätantike« Kunst der Kaiserzeit, die sämtlichen, von einer jungen Glut erfüllten Kulte des Ostens, die mandäische und manichäische Religion, das Christentum und den Neuplatonismus, die kaiserlichen Fora in Rom und das dort erbaute Pantheon,
die früheste aller Moscheen
, zu betrachten.
Daß man in Alexandria und Antiochia noch griechisch schrieb und griechisch zu denken glaubte, wiegt nicht schwerer als die Tatsache, daß die Wissenschaft des Abendlandes bis zu Kant hinauf die lateinische Sprache vorzog und daß Karl der Große das römische Reich »erneuerte«.
Bei Diophant ist die Zahl nicht mehr das Maß und Wesen von
plastischen Dingen
. Auf den ravennatischen Mosaiken ist der Mensch nicht mehr
Körper
. Unvermerkt haben die griechischen Bezeichnungen ihren ursprünglichen Gehalt verloren. Wir verlassen den Bereich der attischen καλoκάγαθία, der stoischen άταραξία und γαλήνη. Zwar kennt Diophant die Null und die negativen Zahlen noch nicht, aber die plastischen Einheiten pythagoräischer Zahlen kennt er
nicht mehr
. Andrerseits ist die Unbestimmtheit der unbenannten arabischen Zahlen doch auch etwas ganz andres als die gesetzmäßige Variabilität der späteren abendländischen Zahl, der
Funktion
.
Die
magische
Mathematik hat sich, ohne daß uns Einzelheiten bekannt wären, über Diophant hinaus – der schon eine gewisse Entwicklung voraussetzt – logisch und in großer Linie bis zur Vollendung in der Abbassidenzeit des 9. Jahrhunderts entwickelt, wie der Stand der Kenntnisse bei Alchwarizmi und Alsidschzi beweist. Was neben der euklidischen Geometrie die attische Plastik – die gleiche Formensprache in andrem Gewande –, was neben der Analysis des Raumes der polyphone Stil der Instrumentalmusik, das bedeutet neben dieser Algebra die magische Kunst der Mosaiken, der vom Sassanidenreich und später von Byzanz aus immer reicher entwickelten Arabesken mit ihrem sinnlich-unsinnlichen Verschweben organischer Formmotive und der Hochreliefs konstantinischen Stils mit dem ungewissen Tiefendunkel des zwischen frei herausgearbeiteten Figuren ausgesparten Hintergrundes. Wie die Algebra zur antiken Arithmetik und zur abendländischen Analysis, so verhält sich die Kuppelkirche zum dorischen Tempel und zum gotischen Dom.
Nicht als ob Diophant ein großer Mathematiker gewesen wäre. Das meiste, woran man bei seinem Namen erinnert wird, steht nicht in seinen Schriften, und was darin steht, ist sicherlich nicht ganz sein Eigentum. Seine zufällige Bedeutung liegt darin, daß – nach dem Stande unseres Wissens – bei ihm als dem ersten das neue Zahlengefühl unverkennbar vorhanden ist. Man wird Meistern gegenüber, die eine Mathematik
abschließen
, wie Apollonios und Archimedes die antike, und ihnen entsprechend Gauß, Cauchy, Riemann die abendländische, bei Diophant, vor allem in seiner Formelsprache, etwas Primitives finden, das bisher gern als spätantiker Verfall angesprochen wurde. Man wird es künftig – nach dem Vorbild jener Umwertung der bisher geradezu verachteten vermeintlich spätantiken Kunst zur
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