Der Untergang des Abendlandes
Unterhaltung,
Umschwebt von Bildern aller Kreatur.«
Hier berühren sich Goethe und Plato im Ahnen eines letzten Geheimnisses. Die Mütter, das Unzugängliche – Platos Ideen – bezeichnen die
Möglichkeiten
eines Seelentums, seine ungeborenen Formen, welche in der sichtbaren, aus der Idee dieses Seelentums heraus mit innerster Notwendigkeit geordneten Welt sich als tätige und geschaffene Kultur, als Kunst, Gedanke, Staat, Religion verwirklicht haben. Hierauf beruht die Verwandtschaft des Zahlendenkens einer Kultur mit deren Weltidee, eine Beziehung, die jenes über das bloße Wissen und Erkennen hinaus zur Bedeutung einer Weltanschauung erhebt und die bewirkt, daß es so viele Mathematiken – Zahlenwelten – wie hohe Kulturen gibt. So wird es begreiflich, ja
notwendig
, daß die größten mathematischen Denker, bildende Künstler im Reiche der Zahlen, aus tief religiöser Intuition zur Auffassung der entscheidenden mathematischen Probleme ihrer Kultur gelangt sind. So hat man sich die Schöpfung der antiken, apollinischen Zahl durch Pythagoras, den
Stifter einer Religion
, zu denken. Dies Urgefühl hat Nicolaus Cusanus geleitet, als er um 1450 von der Betrachtung der Unendlichkeit Gottes in der Natur ausgehend die Grundzüge der Infinitesimalrechnung fand. Leibniz, der ihre Methoden und Bezeichnungen zwei Jahrhunderte später endgültig feststellte, hat selbst aus rein metaphysischen Betrachtungen über das göttliche Prinzip und seine Beziehungen zum unendlichen Ausgedehnten den Gedanken einer
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entwickelt, vielleicht der genialsten Interpretation des reinen, von allem Sinnlichen befreiten Raumes, deren reiche Möglichkeiten erst im 19. Jahrhundert durch Graßmann in seiner Ausdehnungslehre und vor allem durch Riemann, ihren eigentlichen Schöpfer, in seiner Symbolik der zweiseitigen Flächen, welche die Natur von Gleichungen repräsentieren, entfaltet worden sind. Und Kepler wie Newton, beide streng religiöse Naturen, blieben sich wie Plato durchaus bewußt, gerade durch das Medium der Zahlen das Wesen der göttlichen Weltordnung intuitiv erfaßt zu haben.
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Erst Diophant hat, wie man immer hört, die antike Arithmetik aus ihrer sinnlichen Gebundenheit befreit, sie erweitert und fortgeführt und die Algebra als die Lehre von den unbestimmten Größen zwar nicht geschaffen, aber innerhalb der uns bekannten antiken Mathematik ganz plötzlich, zweifellos als Verarbeitung schon vorliegender Gedanken, zur Darstellung gebracht. Das ist allerdings nicht eine Bereicherung, sondern eine vollkommene Überwindung des antiken Weltgefühls, und allein dies hätte beweisen sollen, daß Diophant der antiken Kultur innerlich nicht mehr angehörte. Ein neues Zahlengefühl oder sagen wir Grenzgefühl dem Wirklichen, Gewordnen gegenüber ist in ihm tätig, nicht mehr jenes hellenische, aus dessen sinnlich-gegenwärtigen Grenzwerten sich neben der euklidischen Geometrie der greifbaren Körper auch die Plastik der nackten Statue und das Geld als Münze entwickelt hatten. Einzelheiten der Ausbildung dieser
neuen
Mathematik kennen wir nicht. Diophant steht so völlig einsam in der »spätantiken« Mathematik da, daß man an einen Einfluß von Indien her gedacht hat. Aber es wird wieder die Einwirkung jener früharabischen Hochschulen gewesen sein, deren Studien, abgesehen von den dogmatischen, noch so wenig erforscht sind. Bei ihm taucht unter der
Absicht
euklidischer Gedankengänge jenes neue Grenzgefühl auf – ich nenne es das
magische
–, das sich seiner Gegensätzlichkeit zu der angestrebten antiken Fassung gar nicht bewußt ist. Die Idee der
Zahl als Größe
wird nicht erweitert, sondern unvermerkt aufgelöst. Was eine
unbestimmte
Zahl a und was eine
unbenannte
Zahl 3 ist – beides weder Größe, noch Maß, noch Strecke – hätte ein Grieche gar nicht angeben können. Das neue, in diesen Zahlenarten versinnlichte Grenzgefühl liegt den diophantischen Betrachtungen wenigstens zugrunde; die uns geläufige Buchstabenrechnung selbst, in deren Gewande sich die inzwischen nochmals ganz umgedeutete Algebra heute darstellt, ist erst in fühlbarer, aber unbewußter Opposition gegen die antikisierende Renaissancerechnung 1591 durch Vieta eingeführt worden.
Diophant lebte um 250 n. Chr.,
also im dritten Jahrhundert der arabischen Kultur
, deren geschichtlicher Organismus bisher unter den Oberflächenformen der römischen Kaiserzeit und des »Mittelalters« verschüttet lag [Vgl. Bd. II, Kap. III.] und der alles
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