Der Untergang des Abendlandes
Sternen sei
, [ F. Strunz, Gesch. d. Naturwiss. im Mittelalter (1910), S. 90.] verträgt sich mit dem ptolemäischen System so gut wie mit dem kopernikanischen. Aber mit der Annahme einer Himmelskugel war das Prinzip des Unendlichen, das den sinnlich-antiken Grenzbegriff gefährdet hätte, umgangen. Kein Gedanke an einen grenzenlosen Weltraum taucht auf, der hier schon unvermeidlich erscheint und dessen Vorstellung dem babylonischen Denken längst gelungen war. Im Gegenteil. Archimedes beweist in seiner berühmten Schrift von der »Sandzahl« – wie schon das Wort verrät, der Widerlegung aller infinitesimalen Tendenzen, obwohl sie immer wieder als erster Schritt auf dem Wege zur modernen Integrationsmethode betrachtet wird –, daß dieser stereometrische Körper, denn etwas anderes ist der aristarchische Kosmos nicht, mit Atomen (Sand) erfüllt, zu
sehr großen
, aber
nicht zu unendlichen
Resultaten führe. Das heißt aber gerade alles, was uns die Analysis bedeutet, verneinen. Das Weltall unsrer Physik ist, wie die immer wieder scheiternden und sich dem Geiste von neuem aufdrängenden Hypothesen über den stofflich, d. h. mittelbar anschaulich gedachten Weltäther beweisen, die strengste Verleugnung aller materiellen Begrenztheit. Eudoxos, Apollonios und Archimedes, sicherlich die feinsten und kühnsten Mathematiker der Antike, haben eine
rein optische
Analysis des Gewordnen auf der Grundlage des plastisch-antiken Grenzwertes unter hauptsächlicher Verwendung von Zirkel und Lineal vollkommen durchgeführt. Sie gebrauchen tiefdurchdachte und uns schwer zugängliche Methoden einer Integralrechnung, die selbst mit der Methode des bestimmten Integrals von Leibniz nur scheinbare Ähnlichkeit besitzt, und sie wenden geometrische Örter und Koordinaten an, die durchaus benannte Maßzahlen und Strecken sind und nicht wie bei Fermat und vor allem Descartes unbenannte räumliche Beziehungen, Werte von Punkten in bezug auf ihre Lage im Raum. Hierher gehört vor allem die Exhaustionsmethode des Archimedes [Die Exhaustionsmethode des Archimedes ist von Eudoxos vorbereitet und zur Berechnung des Inhalts von Pyramide und Kegel benützt worden – »das Mittel der Griechen, den verpönten Begriff des Unendlichen zu
umgehen
« (Heiberg, Naturwiss. u. Math, im klass. Alt. (1912), S. 27).] in seiner kürzlich entdeckten Schrift an Eratosthenes, wo er z. B. die Quadratur des Parabelsegments auf die Berechnung eingeschriebener Rechtecke (nicht mehr ähnlicher Polygone) begründet. Aber gerade die geistreiche, unendlich verwickelte Art, wie er in Anlehnung an gewisse geometrische Ideen Platos zum Resultat kommt, macht den ungeheuren Gegensatz zwischen dieser Intuition und der oberflächlich ähnlichen Pascals etwa fühlbar. Es gibt keinen schärferen Gegensatz hierzu – wenn man vom Riemannschen Integralbegriff ganz absieht – als die leider heute noch sogenannten Quadraturen, bei denen die »Fläche« als durch eine Funktion begrenzt bezeichnet wird und von einer zeichnerischen Handhabe keine Rede mehr ist. Nirgends kommen beide Mathematiken einander so nahe und nirgends läßt sich die unüberschreitbare Kluft zweier Seelen, deren Ausdruck sie sind, deutlicher fühlen.
Die reinen Zahlen, deren Wesen die Ägypter im kubischen Stil ihrer frühen Architektur mit einer tiefen Scheu vor dem Geheimnis gleichsam verbargen, waren auch für die Hellenen der Schlüssel zum Sinn des Gewordenen,
Starren
und
also Vergänglichen
. Das Steingebilde und das wissenschaftliche System verneinen das Leben. Die mathematische Zahl als formales Grundprinzip der ausgedehnten Welt, die nur
aus
dem menschlichen Wachsein und
für
dieses da ist, steht durch das Merkmal der kausalen Notwendigkeit zum
Tode
in Beziehung, wie die chronologische Zahl zum Werden, zum Leben, zur Notwendigkeit des Schicksals. Dieser Zusammenhang der strengmathematischen Form mit dem
Ende
des organischen Seins, mit der Erscheinung seines anorganischen Restes, des Leichnams, wird sich immer deutlicher als der Ursprung aller großen Kunst enthüllen. Wir bemerkten schon die Entwicklung der frühen Ornamentik an den Geräten und Behältern des Bestattungskultes.
Zahlen sind Symbole des Vergänglichen
. Starre Formen verneinen das Leben. Formeln und Gesetze breiten Starrheit über das Bild der Natur. Zahlen töten. Es sind die Mütter Fausts, die hehr in Einsamkeit thronen:
»in der Gebilde losgebundnen Reichen …
Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige
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