Der Untergang des Abendlandes
stammfremden Henker der russischen Vorzeit von Dschingiskhan bis Trotzki, zwischen denen die Episode des petrinischen Zarentums liegt, sind doch nicht allzu verschieden von manchen Prätendenten der romanischen Republiken Mittelamerikas, deren Privatkämpfe dort die formvolle Zeit des spanischen Barock längst abgelöst haben. Mit dem geformten Staat hat auch die hohe Geschichte sich schlafen gelegt. Der Mensch wird wieder Pflanze, an der Scholle haftend, dumpf und dauernd. Das zeitlose Dorf, der »ewige« Bauer [Vgl. Bd. II, S. 660, 990f.] treten hervor, Kinder zeugend und Korn in die Mutter Erde versenkend, ein emsiges, genügsames Gewimmel, über das der Sturm der Soldatenkaiser hinbraust. Mitten im Lande liegen die alten Weltstädte, leere Gehäuse einer erloschenen Seele, in die sich geschichtslose Menschheit langsam einnistet. Man lebt von der Hand in den Mund, mit einem kleinen, sparsamen Glück, und duldet. Massen werden zertreten in den Kämpfen der Eroberer um Macht und Beute dieser Welt, aber die Überlebenden füllen mit primitiver Fruchtbarkeit die Lücken und dulden weiter. Und während man in den Höhen siegt und unterliegt in ewigem Wechsel, betet man in der Tiefe, betet mit jener mächtigen Frömmigkeit der zweiten Religiosität, die alle Zweifel für immer überwunden hat. [Vgl. Bd. II, S. 941 f.] Da, in den Seelen, ist der Weltfriede Wirklichkeit geworden, der Friede Gottes, die Seligkeit greiser Mönche und Einsiedler, und da allein. Er hat jene Tiefe im Ertragen von Leid geweckt, welche der historische Mensch in dem Jahrtausend seiner Entfaltung nicht kennen lernt. Erst mit dem Ende der großen Geschichte tritt das heilige, stille Wachsein wieder hervor. Es ist ein Schauspiel, das in seiner Zwecklosigkeit erhaben ist, zwecklos und erhaben wie der Gang der Gestirne, die Drehung der Erde, der Wechsel von Land und Meer, von Eis und Urwäldern auf ihr. Man mag es bewundern oder beweinen – aber es ist da.
III. Philosophie der Politik
15
Über den Begriff der Politik haben wir mehr nachgedacht, als für uns gut war. Um so weniger verstanden wir uns auf die Beobachtung wirklicher Politik. Die großen Staatsmänner pflegen unmittelbar zu handeln und zwar aus einem sichern Sinn für die Tatsachen heraus. Das ist für sie so selbstverständlich, daß die Möglichkeit, über allgemeine Grundbegriffe dieses Handelns nachzudenken, ihnen gar nicht in den Sinn kommt, gesetzt, daß es solche Begriffe überhaupt gibt. Sie wußten von jeher, was sie zu tun hatten. Eine Theorie darüber entsprach weder ihrer Begabung noch ihrem Geschmack. Denker von Beruf aber, die ihren Blick auf die von Menschen geschaffenen Tatsachen lenkten, standen diesem Handeln innerlich so fern, daß sie sich in Abstraktionen vergrübelten, am liebsten in mythische Gebilde wie Gerechtigkeit, Tugend, Freiheit, und danach dem historischen Geschehen der Vergangenheit und vor allem der Zukunft das Maß anlegten. Darüber vergaßen sie zuletzt den Rang bloßer Begriffe und kamen zu der Überzeugung, daß Politik da sei, um den Lauf der Welt nach einem idealischen Rezept zu gestalten. Da dergleichen nie und nirgends geschah, so erschien ihnen das politische Tun dem abstrakten Denken gegenüber so gering, daß sie sich in ihren Büchern darum stritten, ob es ein »Genie der Tat« überhaupt gebe.
Demgegenüber wird hier der Versuch gemacht, statt eines ideologischen Systems eine
Physiognomik
der Politik zu schaffen, wie sie im Ablauf der gesamten Geschichte wirklich gemacht worden ist, und nicht wie sie hätte gemacht werden sollen. In den letzten Sinn großer Tatsachen eindringen, sie »sehen«, das symbolisch Bedeutsame in ihnen erfühlen und umschreiben, war die Aufgabe. Die Entwürfe von Weltverbesserern haben mit der geschichtlichen Wirklichkeit nichts zu tun. [»Reiche vergehen, ein guter Vers bleibt«, meinte W. v. Humboldt auf dem Schlachtfeld von Waterloo. Aber die Persönlichkeit Napoleons hat die Geschichte der nächsten Jahrhunderte im voraus geformt. Die guten Verse – er hätte doch einmal einen Bauern am Wege nach ihnen fragen sollen. Sie bleiben – für den Literaturunterricht. Plato ist ewig – für Philologen. Aber Napoleon beherrscht
uns alle
innerlich, unsere Staaten und Heere, unsere öffentliche Meinung, unser ganzes politisches Sein, und um so mehr, je weniger es uns zum Bewußtsein kommt.]
Die menschlichen Daseinsströme nennen wir Geschichte, sobald wir sie als Bewegung,-Geschlecht, Stand, Volk, Nation, sobald
Weitere Kostenlose Bücher