Der Untergang des Abendlandes
Angst vor dem Augenblick, wo das Mögliche verwirklicht, das Leben innerlich erfüllt und vollendet ist, wo das Bewußtsein am
Ziele
steht. Es ist jene tiefe Weltangst der Kinderseele, welche den höheren Menschen, den Gläubigen, den Dichter, den Künstler in seiner grenzenlosen Vereinsamung niemals verläßt, die Angst vor den fremden Mächten, die groß und drohend, in sinnliche Erscheinungen verkleidet, in die ertagende Welt hineinragen. Auch die Richtung in allem Werden wird in ihrer Unerbittlichkeit –
Nichtumkehrbarkeit
– vom menschlichen Verstehenwollen wie etwas Fremdes und Feindliches mit Namen belegt, um das ewig Unverständliche zu bannen. Es ist etwas ganz Unfaßbares, das Zukunft in Vergangenheit verwandelt, und dies gibt der Zeit im Gegensatz zum Raume jenes widerspruchsvoll Unheimliche und drückend Zweideutige, dessen sich kein bedeutender Mensch ganz erwehren kann.
Die Weltangst ist sicherlich das
schöpferischste
aller Urgefühle. Ihr verdankt ein Mensch die reifsten und tiefsten aller Formen und Gestalten nicht nur seines bewußten Innenlebens, sondern auch von dessen Spiegelung in den zahllosen Bildungen äußerer Kultur. Wie eine geheime Melodie, nicht jedem vernehmbar, geht die Angst durch die Formensprache eines jeden wahren Kunstwerkes, jeder innerlichen Philosophie, jeder bedeutenden Tat und sie liegt, nur den wenigsten noch fühlbar, auch den großen Problemen jeder Mathematik zugrunde. Nur der innerlich erstorbene Mensch der späten Städte, des Babylon Hammurabis, des ptolemäischen Alexandria, des islamischen Bagdad oder des heutigen Paris und Berlin, nur der rein intellektuelle Sophist, Sensualist und Darwinist verliert oder verleugnet sie, indem er eine geheimnislose »wissenschaftliche Weltanschauung« zwischen sich und das Fremde stellt.
Knüpft sich die Sehnsucht an jenes unfaßliche Etwas, dessen tausendgestaltige ungreifbare Daseinszeichen durch das Wort Zeit mehr verdeckt als bezeichnet werden, so findet das Urgefühl der Angst seinen Ausdruck in den geistigen, faßlichen, der Gestaltung fähigen Symbolen der
Ausdehnung
. So finden sich im Wachsein jeder Kultur, in jeder anders geartet, die Gegenformen der Zeit und des Raumes, der Richtung und der Ausdehnung, jene dieser zugrunde liegend, wie das Werden dem Gewordnen – denn auch die Sehnsucht liegt der Angst zugrunde;
sie wird
zur Angst, nicht umgekehrt –, jene der geistigen Macht entzogen, diese ihr dienend, jene nur zu
erleben
, diese nur zu
erkennen
. »Gott fürchten und lieben« ist der christliche Ausdruck für den Gegensinn beider Weltgefühle.
Aus der Seele des gesamten Urmenschentums und also auch der frühesten Kindheit erhebt sich der Drang, das Element der fremden Mächte, die in allem Ausgedehnten,
im
Raume und
durch
den Raum unerbittlich gegenwärtig sind, zu bannen, zu zwingen, zu versöhnen – zu »erkennen«. Im letzten Grunde ist alles dies dasselbe.
Gott erkennen
heißt in der Mystik aller frühen Zeiten ihn beschwören, ihn sich geneigt machen, ihn sich innerlich
aneignen
. Das geschieht vor allem durch ein Wort, den »Namen«, mit dem man das
numen
benennt,
anruft
, oder durch die Ausübung der Bräuche eines Kultes, denen eine geheime Kraft innewohnt. Kausale, systematische Erkenntnis, Grenzsetzung durch Begriffe und Zahlen, ist die feinste, aber auch die mächtigste Form dieser Abwehr. Insofern wird der Mensch erst durch die
Wortsprache
ganz zum Menschen. Die an Worten gereifte Erkenntnis verwandelt mit Notwendigkeit das Chaos der ursprünglichen
Eindrücke
in die »Natur«, für die es Gesetze gibt, denen sie
gehorchen
muß, die »Welt an sich« in die »Welt für uns«. [Vom »Namenzauber« der Wilden bis zur modernsten Wissenschaft, welche die Dinge unterwirft, indem sie Namen, nämlich Fachausdrücke für sie prägt, hat sich der Form nach nichts geändert. Vgl. Bd. II, S. 723 f., 881 ff.] Sie stillt die Weltangst, indem sie das Geheimnisvolle bändigt, es zur
faßlichen
Wirklichkeit gestaltet, es durch die ehernen Regeln einer ihm aufgeprägten intellektuellen Formensprache fesselt.
Dies ist die
Idee des »tabu«
, [Vgl. Bd. II, S. 693 ff.] das im Seelenleben aller primitiven Menschen eine entscheidende Rolle spielt, dessen ursprünglicher Gehalt aber uns so fern liegt, daß das Wort in keine reife Kultursprache mehr übertragbar ist. Ratlose Angst, heilige Scheu, tiefe Verlassenheit, Schwermut, Haß, dunkle Wünsche nach Annäherung, Vereinigung, Entfernung, all diese formvollen
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