Der Untergang des Abendlandes
umfaßt.
Heimat
ist dem antiken Menschen, was er von der Burg seiner Vaterstadt aus übersehen kann, nicht mehr. Was jenseits dieser optischen Grenze eines politischen Atoms lag, war fremd, war sogar feindlich. Hier schon beginnt die Angst des antiken Daseins, und dies erklärt die furchtbare Erbitterung, mit der diese winzigen Städte einander vernichteten. Die Polis ist die kleinste aller denkbaren Staatsformen und ihre Politik die ausgesprochene Politik der Nähe, sehr im Gegensatz zu unserer Kabinettsdiplomatie, der Politik des Grenzenlosen. Der antike Tempel, mit
einem
Blick zu umfassen, ist der kleinste aller klassischen Bautypen. Die Geometrie von Archytas bis auf Euklid beschäftigt sich – wie es die unter ihrem Eindruck stehende Schulgeometrie noch heute tut – mit kleinen, handlichen Figuren und Körpern, und so blieben ihr die Schwierigkeiten verborgen, welche bei der Zugrundelegung von Figuren mit astronomischen Dimensionen auftauchen und die Anwendung der euklidischen Geometrie nicht mehr überall gestatten. [In der modernen Astronomie beginnt heute die Verwendung nichteuklidischer Geometrien. Die Annahme eines unbegrenzten, aber endlichen, gekrümmten Raumes, den das Fixsternsystem mit einem Durchmesser von etwa 470 Millionen Erdabständen füllt, würde zur Annahme eines Gegenbildes der Sonne führen, das uns als Stern mittlerer Helligkeit erscheint.]
>Andernfalls hätte der feine attische Geist vielleicht schon damals etwas von dem Problem der nichteuklidischen Geometrien geahnt, denn die Einwände gegen das bekannte Parallelenaxiom, [Daß durch einen Punkt zu einer Geraden nur eine Parallele möglich sei, ein Satz, der sich nicht beweisen läßt.] dessen zweifelhafte und doch nicht zu verbessernde Fassung schon früh Anstoß erregte, rührten nahe an die entscheidende Entdeckung. So selbstverständlich dem antiken Sinn die ausschließliche Betrachtung des Nahen und Kleinen, so selbstverständlich ist dem unsern die des Unendlichen, die Grenzen des Sehsinnes Überschreitenden. Alle mathematischen Ansichten, welche das Abendland entdeckte oder entlehnte, wurden mit Selbstverständlichkeit der Formensprache des Infinitesimalen unterworfen und das, lange bevor die eigentliche Differentialrechnung entdeckt worden war. Arabische Algebra, indische Trigonometrie, antike Mechanik werden ohne weiteres der Analysis einverleibt. Gerade die »evidentesten« Sätze des elementaren Rechnens – daß etwa 2 x 2 = 4 ist – werden, aus analytischen Gesichtspunkten betrachtet, zu Problemen, deren Lösung erst durch Ableitungen aus der Mengenlehre und in vielen Einzelheiten überhaupt noch nicht gelungen ist – was Plato und seiner Zeit sicherlich als Wahnsinn und Beweis eines völligen Mangels an mathematischer Begabung erschienen wäre.
Man kann gewissermaßen die Geometrie algebraisch oder die Algebra geometrisch behandeln, das heißt, das Auge ausschalten oder herrschen lassen. Das erste haben wir, das andere die Griechen getan. Archimedes, der in seiner schönen Berechnung der Spirale gewisse allgemeine Tatsachen berührt, die auch der Methode des bestimmten Integrals bei Leibniz zugrunde liegen, ordnet sein bei oberflächlicher Betrachtung höchst modern wirkendes Verfahren sofort stereometrischen Prinzipien unter; ein Inder hätte im gleichen Falle mit Selbstverständlichkeit etwa eine trigonometrische Formulierung gefunden. [Was von der uns bekannten indischen Mathematik
alt
indisch, das heißt vor Buddha entstanden ist, läßt sich heute nicht mehr feststellen.]
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Aus dem fundamentalen Gegensatz antiker und abendländischer Zahlen entspringt ein ebenso tiefgehender des Verhältnisses, in dem die Elemente jeder dieser Zahlenwelten untereinander stehen. Das Verhältnis von
Größen
heißt
Proportion
, das von
Beziehungen
ist im Begriff der
Funktion
enthalten. Beide Worte haben, über den Bereich der Mathematik hinausgehend, größte Bedeutung für die Technik der beiden zugehörigen Künste, der Plastik und der Musik. Sieht man ganz von dem Sinn ab, den das Wort Proportion für die Gliederung der
einzelnen
Statue besitzt, so sind es die typisch antiken Kunstformen der Statue, des Reliefs und des Fresko, welche eine
Vergrößerung
und
Verkleinerung
des Maßstabes gestatten – Worte, die für die Musik überhaupt keinen Sinn haben. Man denke an die Kunst der Gemmen, deren Gegenstände im wesentlichen Verkleinerungen lebensgroßer Motive waren. Innerhalb der Funktionentheorie dagegen ist der Begriff
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