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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Gefühle
gereifter
Seelen verschweben in kindlichen Zuständen zu einer dumpfen Unentschiedenheit. Der Doppelsinn des Wortes Beschwören, das bezwingen und anflehen zugleich bedeutet, kann den Sinn jenes mystischen Vorganges verdeutlichen, durch den für den frühen Menschen das Fremde und Gefürchtete »tabu« wird. Die ehrfürchtige Scheu vor allem von ihm Unabhängigen, Gesetzten, Gesetzlichen, den fremden Mächten in der Welt,
ist der Ursprung aller und jeder elementaren Formgebung
. In Urzeiten verwirklicht sie sich im Ornament, in peinlichen Zeremonien und Riten und den strengen Satzungen eines primitiven Verkehrs. Auf der Höhe großer Kulturen sind diese Gestaltungen, ohne innerlich die Merkmale ihrer Herkunft, den Charakter einer Bannung und Beschwörung verloren zu haben, zu den vollendeten Formenwelten der einzelnen Künste, des religiösen, naturwissenschaftlichen und
vor allem mathematischen
Denkens geworden. Ihr gemeinsames Mittel, das einzige, welches die sich verwirklichende Seele kennt, ist
die Symbolisierung des Ausgedehnten
, des Raumes oder der Dinge – sei es in den Konzeptionen des absoluten Weltraumes der Physik Newtons, der Innenräume gotischer Dome und maurischer Moscheen, der atmosphärischen Unendlichkeit der Gemälde Rembrandts und ihrer Wiederkehr in den dunklen Tonwelten Beethovenscher Quartette, seien es die regelmäßigen Polyeder Euklids, die Parthenonskulpturen oder die Pyramiden Altägyptens, das Nirwana Buddhas, die Distanz höfischer Sitte unter Sesostris, Justinian I. und Ludwig XIV., sei es endlich die Gottesidee eines Aischylos, Plotin, Dante oder die den Erdball umspannende Raumenergie der heutigen Technik.
12
    Kehren wir zur Mathematik zurück. Der Ausgangspunkt aller antiken Formgebung war, wie wir sahen, die Ordnung des Gewordnen, insofern es gegenwärtig, übersehbar, meßbar, zählbar ist. Das abendländische, gotische Formgefühl, das einer maßlosen, willensstarken, in alle Fernen schweifenden Seele, hat das Zeichen des reinen, unanschaulichen, grenzenlosen Raumes gewählt. Man täusche sich ja nicht über die
enge Bedingtheit
solcher Symbole, die uns leicht als wesensgleich, als allgemeingültig erscheinen. Unser unendlicher Weltraum, über dessen Vorhandensein, wie es scheint, kein Wort zu verlieren ist, ist für den antiken Menschen
nicht
vorhanden. Er ist ihm nicht einmal vorstellbar. Der hellenische Kosmos andrerseits, dessen tiefe Fremdheit für unsre Auffassungsweise nicht so lange hätte unbemerkt bleiben sollen, ist dem Hellenen
das
Selbstverständliche. In der Tat ist der absolute Raum unserer Physik eine Form mit sehr vielen, äußerst verwickelten stillschweigenden Voraussetzungen, die allein aus
unserem
Seelentum als dessen Abbild und Ausdruck entstanden und allein für
unsere
Art des wachen Daseins wirklich, notwendig und natürlich ist. Die einfachen Begriffe sind immer die schwierigsten. Ihre Einfachheit besteht darin, daß unendlich vieles, was sich nicht aussprechen ließe, auch gar nicht gesagt zu werden braucht, weil es für Menschen dieses Kreises gefühlsmäßig gesichert, für fremde allerdings eben deshalb auch vollkommen unzugänglich ist. Das gilt von dem spezifisch abendländischen Inhalt des Wortes Raum. Die gesamte Mathematik von Descartes an dient der theoretischen Interpretation dieses großen, ganz von religiösem Gehalt erfüllten Symbols. Die Physik will seit Galilei nichts anderes. Die antike Mathematik und Physik
kennen
den Gehalt dieses Wortes überhaupt nicht.
    Auch hier haben antike Namen, die wir aus der literarischen Erbschaft der Griechen beibehalten haben, den Tatbestand verschleiert. Geometrie heißt die Kunst des Messens, Arithmetik die des Zählens. Die Mathematik des Abendlandes hat mit diesen
beiden
Arten des Begrenzens nichts mehr zu tun, aber sie hat keinen neuen Namen für sie gefunden. Das Wort Analysis sagt bei weitem nicht alles.
    Der antike Mensch beginnt und schließt seine Erwägungen mit dem einzelnen Körper und seinen Grenzflächen, zu denen indirekt die Kegelschnitte und höheren Kurven gehören.
Wir
kennen im Grunde nur das abstrakte Raumelement des Punktes, das ohne Anschaulichkeit, ohne die Möglichkeit einer Messung und Benennung, lediglich ein Beziehungszentrum darstellt. Die Gerade ist für den Griechen eine meßbare Kante, für uns ein unbegrenztes Punktkontinuum. Leibniz führt als Beispiel für sein Infinitesimalprinzip die Gerade an, die den Grenzfall eines Kreises mit unendlich großem Radius

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