Der Untergang des Abendlandes
darstellt, während der Punkt den andern Grenzfall bildet. Für den Griechen ist der Kreis aber eine
Fläche
, und das Problem besteht darin, sie in eine kommensurable Gestalt zu bringen.
So wurde die Quadratur des Kreises das klassische Grenzproblem für den Geist antiker Menschen
. Das schien ihnen das tiefste aller Probleme der Weltform: krummlinig begrenzte Flächen bei unveränderter Größe in Rechtecke zu verwandeln und dadurch
meßbar
zu machen. Für uns ist daraus das wenig bedeutende Verfahren geworden, die Zahl π durch algebraische Mittel darzustellen, ohne daß dabei von geometrischen Gebilden überhaupt noch die Rede wäre.
Der antike Mathematiker kennt nur das, was er sieht und greift. Wo die begrenzte, begrenzende Sichtbarkeit, das Thema seiner Gedankengänge, aufhört, findet seine Wissenschaft ein Ende. Der abendländische Mathematiker begibt sich, sobald er von antiken Vorurteilen frei sich selbst gehört, in die gänzlich abstrakte Region einer unendlichen Zahlenmannigfaltigkeit von n – nicht mehr von 3 – Dimensionen, innerhalb deren
seine
sogenannte Geometrie jeder anschaulichen Hilfe entbehren kann und meistern muß. Greift der antike Mensch zu künstlerischem Ausdruck seines Formgefühls, so sucht er dem menschlichen Körper in Tanz und Ringkampf, in Marmor und Bronze diejenige Haltung zu geben, in der Flächen und Konturen ein Maximum von Maß und Sinn haben. Der echte Künstler des Abendlandes aber schließt die Augen und verliert sich in den Bereich einer körperlosen Musik, in dem Harmonie und Polyphonie zu Bildungen von höchster »Jenseitigkeit« führen, die weitab von allen Möglichkeiten optischer Bestimmung liegen. Man denke daran, was ein athenischer Bildhauer und was ein nordischer Kontrapunkt ist unter einer
Figur
versteht, und man hat den Gegensatz beider Welten, beider Mathematiken unmittelbar vor sich. Die griechischen Mathematiker gebrauchen sogar das Wort σῶμα für ihre Körper. Andrerseits verwendet es die Rechtssprache für die Person im Gegensatz zur Sache σωματα χαι πραγματα
personae et res
).
Deshalb sucht die antike, ganze, körperhafte Zahl unwillkürlich eine Beziehung zur Entstehung des leiblichen Menschen, des σῶμα. Die Zahl 1 wird noch kaum als wirkliche Zahl empfunden. Sie ist die ἀρχή, der Urstoff der Zahlenreihe, der Ursprung aller eigentlichen Zahlen und damit aller Größe, allen Maßes, aller Dinglichkeit. Ihr Zahlzeichen war im Kreise der Pythagoräer, gleichviel zu welcher Zeit, zugleich das Symbol des Mutterschoßes, des Ursprungs allen Lebens. Die 2, die erste
eigentliche
Zahl, welche die 1 verdoppelt, erhielt deshalb eine Beziehung zum männlichen Prinzip, und ihr Zeichen war eine Nachbildung des Phallus. Die
heilige Drei
der Pythagoräer endlich bezeichnete den Akt der Vereinigung von Mann und Weib, die Zeugung – die erotische Deutung der beiden
einzigen
der Antike wertvollen Prozesse der Größenvermehrung, der
Größenzeugung
, Addition und Multiplikation, ist leicht verständlich –, und ihr Zeichen war die Vereinigung der beiden ersten. Von hier aus fällt ein neues Licht auf den erwähnten Mythos vom Frevel der Aufdeckung des Irrationalen. Das Irrationale, in unsrer Ausdrucksweise die Verwendung unendlicher Dezimalbrüche, bedeutete eine Zerstörung der organisch-leiblichen, zeugenden Ordnung, welche durch die Götter gesetzt war. Es ist kein Zweifel, daß die pythagoräische Reform der antiken Religion den uralten Demeterkult wieder zugrunde legte. Demeter ist der Gaia, der mütterlichen Erde verwandt. Es besteht eine tiefe Beziehung zwischen ihrer Verehrung und dieser erhabenen Auffassung der Zahlen.
So ist die Antike mit innerer Notwendigkeit allmählich die Kultur des
Kleinen
geworden. Die apollinische Seele hatte den Sinn des Gewordnen durch das Prinzip der
übersehbaren
Grenze zu bannen gesucht; ihr »tabu« richtete sich auf die unmittelbare Gegenwart und Nähe des Fremden. Was weit fort, was nicht sichtbar war, war auch nicht da. Der Grieche wie der Römer opferte den Göttern der Gegend, in welcher er sich aufhielt; alle andern entschwanden seinem Gesichtskreis. Wie die griechische Sprache
kein Wort für den Raum besaß
– wir werden die gewaltige Symbolik solcher Sprachphänomene immer wieder verfolgen –, so fehlt dem Griechen auch unser Landschaftsgefühl, das Gefühl für Horizonte, Ausblicke, Fernen, Wolken, auch der Begriff des Vaterlandes, das sich weithin erstreckt und eine große Nation
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