Der Untergang des Abendlandes
linearen Kontinuum zwischen +1 und -1; es hat Eulers analytischen Untersuchungen geschadet, daß er – wie viele nach ihm – die Differentiale für Nullen hielt. Erst der von Cauchy endgültig aufgeklärte Begriff des
Grenzwertes
beseitigt diesen Rest antiken Zahlengefühls und macht die Infinitesimalrechnung zu einem widerspruchslosen System. Erst der Schritt von der »unendlich kleinen Größe« zu dem »unteren Grenzwert
jeder möglichen
endlichen Größe« führt zur Konzeption einer veränderlichen Zahl, die unterhalb jeder von Null verschiedenen endlichen Größe sich bewegt, selbst also nicht den geringsten Zug einer Größe mehr trägt. Der Grenzwert in dieser endgültigen Fassung ist überhaupt nicht mehr das, was angenähert
wird. Er stellt die Annäherung – den Prozeß, die Operation – selbst dar. Er ist kein Zustand, sondern ein Verhalten.
Hier, im entscheidenden Problem der abendländischen Mathematik, verrät sich plötzlich, daß unser Seelentum ein
historisch
angelegtes ist. [»Funktion, recht begriffen, ist das Dasein in Tätigkeit gedacht« (Goethe). Vgl. die Erzeugung des faustischen funktionalen Geldes, Bd. II, S. 1169, 1177.]
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Die Geometrie von der Anschauung, die Algebra vom Begriff der Größe zu befreien und beide jenseits der elementaren Schranken von Konstruktion und Rechnung zu dem mächtigen Gebäude der Funktionentheorie zu vereinigen, das war der große Weg des abendländischen Zahlendenkens. So wurde die antike, konstante Zahl zur veränderlichen aufgelöst. Die analytisch
gewordene
Geometrie löste alle konkreten Formen auf. Sie ersetzt den mathematischen Körper, an dessen starrem Bilde geometrische Werte gefunden werden, durch abstrakt-räumliche Beziehungen, die zuletzt auf Tatsachen der sinnlich-gegenwärtigen Anschauung überhaupt nicht mehr anwendbar sind. Sie ersetzt zunächst die optischen Gebilde Euklids durch geometrische Örter in bezug auf ein Koordinatensystem, dessen Anfangspunkt willkürlich gewählt werden kann, und reduziert das gegenständliche Dasein des geometrischen Objekts auf die Forderung, daß während der Operation, die sich nicht mehr auf Messungen, sondern auf Gleichungen richtet, das gewählte System nicht verändert werden darf. Alsbald werden aber die Koordinaten nur noch als reine Werte aufgefaßt, welche die Lage der Punkte als abstrakter Raumelemente nicht sowohl bestimmen, als repräsentieren und ersetzen. Die Zahl, die Grenze des Gewordnen, wird nicht mehr durch das Bild einer Figur, sondern durch das Bild einer Gleichung symbolisch dargestellt. Die »Geometrie« kehrt ihren Sinn um: das Koordinatensystem als Bild verschwindet, und der Punkt ist nunmehr eine vollkommen abstrakte Zahlengruppe. Wie die Architektur der Renaissance durch die Neuerungen Michelangelos und Vignolas in die des Barock übergeht – das ist das genaue Abbild dieser innern Wandlung der Analysis. An den Palast- und Kirchenfassaden werden die sinnlich reinen Linien gleichsam unwirklich. An Stelle der klaren Koordinaten florentinisch-römischer Säulenstellungen und Geschoßgliederungen tauchen die »infinitesimalen« Elemente geschwungener, flutender Bauteile, Voluten, Kartuschen auf. Die Konstruktion verschwindet in der Fülle des Dekorativen – mathematisch gesprochen des Funktionalen; Säulen und Pilaster, in Gruppen und Bündel zusammengefaßt, durchziehen ohne Ruhepunkte für das Auge die Fronten, sammeln und zerstreuen sich; die Flächen der Wände, Decken, Geschosse lösen sich in der Flut von Stukkaturen und Ornamenten auf, verschwinden und zerfallen unter farbigen Lichtwirkungen. Das Licht aber, das nun über dieser Formwelt des reifen Barock spielt – von Bernini um 1650 an bis zum Rokoko in Dresden, Wien, Paris –, ist ein rein musikalisches Element geworden. Der Dresdner Zwinger ist eine
Sinfonie
. Mit der Mathematik hat sich im 18. Jahrhundert auch die Architektur zu einer Formenwelt von
musikalischem
Charakter entwickelt.
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Auf dem Wege dieser Mathematik mußte endlich der Augenblick eintreten, wo nicht nur die Grenzen künstlicher geometrischer Gebilde, sondern die Grenzen des Sehsinnes überhaupt seitens der Theorie wie der Seele selbst in ihrem Drange nach rückhaltlosem Ausdruck ihrer innern Möglichkeiten
als
Grenzen, als Hindernis empfunden wurden, wo also das Ideal transzendenter Ausgedehntheit zu den beschränkten Möglichkeiten des unmittelbaren Augenscheins in grundsätzlichen Widerspruch trat. Die antike Seele, welche mit voller Hingabe der
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