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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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platonischen und stoischen
άταραξία
das Sinnliche gelten und walten ließ und ihre großen Symbole, wie es der erotische Hintersinn der pythagoräischen Zahlen beweist,
eher empfing als gab
, konnte auch das körperliche
Jetzt
und
Hier
niemals überschreiten wollen. Hatte sich aber die pythagoräische Zahl im Wesen
gegebener
Einzeldinge in der
Natur
offenbart, so war die Zahl des Descartes und der Mathematiker nach ihm etwas, das
erobert
und
erzwungen
werden mußte, eine herrische abstrakte Beziehung, unabhängig von aller sinnlichen Gegebenheit und jederzeit bereit, diese Unabhängigkeit der Natur gegenüber geltend zu machen. Der Wille zur Macht – um Nietzsches große Formel zu gebrauchen –, der von der frühesten Gotik der Edda, der Kathedralen und Kreuzzüge, ja von den erobernden Wikingern und Goten an das Verhalten der nordischen Seele ihrer Welt gegenüber bezeichnet, liegt auch in dieser Energie der abendländischen Zahl gegenüber der Anschauung.
Das
ist »Dynamik«. In der apollinischen Mathematik dient der Geist dem Auge, in der faustischen überwindet er es.
    Der mathematische, »absolute«, so gänzlich unantike Raum selbst war von Anfang an, was die Mathematik in ihrer Ehrfurcht vor hellenischen Traditionen nicht zu bemerken wagte, nicht die unbestimmte Räumlichkeit der täglichen Eindrücke, der landläufigen Malerei, der vermeintlich so eindeutigen und gewissen apriorischen Anschauung Kants, sondern ein reines Abstraktum, ein ideales und unerfüllbares Postulat einer Seele, der die Sinnlichkeit als Mittel des Ausdruckes immer weniger genügte und die sich endlich leidenschaftlich von ihr abwandte. Das
innere
Auge erwachte.
    Jetzt erst mußte es tiefen Denkern fühlbar werden, daß die euklidische Geometrie, die
einzige
und
richtige
für den naiven Blick aller Zeiten, von diesem hohen Standpunkt aus betrachtet nichts ist als eine
Hypothese
, deren Alleingültigkeit gegenüber anderen, auch ganz unanschaulichen Arten von Geometrien, wie wir seit Gauß bestimmt wissen, sich niemals beweisen läßt. Der Kernsatz dieser Geometrie, das Parallelenaxiom Euklids, ist eine
Behauptung
, die sich durch andere ersetzen läßt, daß es nämlich durch einen Punkt zu einer Geraden keine, zwei oder viele Parallelen gibt, Behauptungen, die sämtlich zu vollkommen widerspruchslosen dreidimensionalen geometrischen Systemen führen, die in der Physik und auch in der Astronomie angewendet werden können und zuweilen der euklidischen vorzuziehen sind.
    Schon die einfache Forderung der Unbegrenztheit des Ausgedehnten – die man seit Riemann und dessen Theorie unbegrenzter, aber infolge ihrer Krümmung nicht unendlicher Räume eben von der Unendlichkeit zu scheiden hat – widerspricht dem eigentlichen Charakter aller unmittelbaren Anschauung, welche von dem Vorhandensein von Lichtwiderständen, also materiellen Grenzen abhängt. Es sind aber abstrakte Prinzipien der Grenzsetzung denkbar, die in einem ganz neuen Sinne die Möglichkeit optischer Begrenzung überschreiten. Für den Tieferblickenden liegt schon in der kartesischen Geometrie die Tendenz, über die drei Dimensionen des
erlebten
Raumes als einer für die Symbolik der Zahlen nicht notwendigen Schranke hinauszugehen. Und wenn auch erst seit 1800 etwa die Vorstellung
mehrdimensionaler
Räume – man hätte das Wort besser durch ein neues ersetzt – zur erweiterten Grundlage des analytischen Denkens wurde, so war doch der erste Schritt dazu in dem Augenblick getan, wo die Potenzen, eigentlicher die Logarithmen, von ihrer ursprünglichen Beziehung auf sinnlich realisierbare Flächen und Körper abgelöst und – unter Verwendung irrationaler und komplexer Exponenten – als Beziehungswerte von ganz allgemeiner Art in das Gebiet des Funktionalen eingeführt wurden. Wer hier überhaupt folgen kann, wird auch begreifen, daß schon mit dem Schritt von der Vorstellung a 3 als einem natürlichen Maximum zu a n die Unbedingtheit eines Raumes von drei Dimensionen aufgehoben ist.
    Nachdem einmal das Raumelement des Punktes den immerhin noch optischen Charakter eines Koordinatenschnittes in einem anschaulich vorstellbaren System verloren hatte und als Gruppe dreier unabhängiger Zahlen definiert worden war, lag kein inneres Hindernis mehr vor, die Zahl 3 durch die allgemeine n zu ersetzen. Es tritt eine Umkehrung des Dimensionsbegriffes ein: es bezeichnen nicht mehr Maßzahlen optische Eigenschaften eines Punktes hinsichtlich seiner Lage in einem System, sondern

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