Der Untergang
aufgerichtet und der sprichwörtlichen Salzsäule gleich stand Abu Dun da und starrte durch das Loch
im Dach nach draußen. Andrej war mit zwei schnellen Schritten bei ihm, und was er sah, ließ ihn
gleichermaßen überrascht und erschrocken zurückweichen.
Der Platz vor der Mühle war nicht mehr leer. Auf der anderen Seite, jenseits des schmalen Waldweges,
und auf den ersten Blick kaum sichtbar - wie Nebelgespenster, die in der Morgendämmerung aus dem
Boden stiegen -, standen vier schlanke Gestalten. Sie waren zu weit entfernt, als dass Andrej ihre
Gesichter hätte erkennen können, aber das war auch nicht nötig. Vollkommen reglos standen sie da, mit in
den Nacken gelegten Köpfen, und Andrej konnte ihre Blicke spüren wie die Berührung unsichtbarer,
heißer Hände; eine körperlose Berührung zwar, die aber trotzdem mit unbarmherziger Kraft nach ihm
griff.
»So ist das also«, murmelte Abu Dun. »Aber diesmal entkommen sie mir nicht - und wenn es das Letzte
ist, was ich tue.« Er zog den Säbel, fuhr herum - und konnte einen überraschten Aufschrei nicht
unterdrücken.
Als Andrej ebenfalls herumwirbelte, erging es ihm nicht anders.
Zwischen ihnen und der Treppe waren weitere Ratten aufgetaucht. Es war gut ein Dutzend großer,
struppiger Tiere, die sie auf ebenso unheimliche Weise und mit ebenso unnatürlicher Ruhe anstarrten wie
die erste Ratte.
Und noch während Andrej begriff, dass nichts von alledem, was sie hier erlebten, Zufall sein konnte, hörte
er ein Rascheln hinter sich, das Scharren krallenbewehrter Pfoten auf dem Boden, ein rasendes, hartes
Trippeln, das die Wände herunterkam, und er war nicht überrascht, dass plötzlich hinter ihnen weitere
Ratten aufgetaucht waren.
Keines der Tiere machte Anstalten, sich ihnen auf weniger als Armeslänge zu nähern, aber sie zeigten
auch keine Scheu, wie es die Nager für gewöhnlich in der Nähe der Menschen tun.
Und es wurden immer mehr. Der Raum füllte sich stetig lautlos und rasend schnell.
»Vielleicht ist es wirklich eine gute Idee, von hier zu verschwinden«, sagte Abu Dun. Seine Stimme
zitterte, und seine rechte Hand hatte sich fester um den Schwertgriff geschlossen. Dann warf er mit einem
Ruck den Kopf in den Nacken und stieß ein entsetztes Keuchen aus. »Bei Allah!«
Die zerbrochene Decke, aber auch die Wände, die Trägerbalken, Zahnräder und das uralte Gestänge der
Windmühle schienen plötzlich zum Leben erwacht zu sein, wogendes, pelziges, huschendes Leben, das
nur Gier und sinnlose Raserei kannte.
Auf einmal waren sie überall: Kleine, graue, struppige Körper - scharrende Krallen, schnuppernde
Schnauzen, schwarz glänzende Äuglein und dünne, nackte Schwänze -, die jede Handbreit des Raumes zu
bedecken schienen und immer noch mehr wurden.
Es war Andrej unmöglich, auch nur zu schätzen, wie viele Tiere es waren, die buchstäblich aus dem
Nichts auftauchten.
Auch der Boden war nun von Hunderten, wenn nicht Tausenden von Ratten bedeckt, die durcheinander
huschten und über- und untereinander herkrochen.
Schon bildeten die Tiere einen undurchdringlichen, weniger als drei Schritte messenden Kreis, in dessen
Zentrum Abu Dun und er standen, und der immer kleiner zu werden schien; nicht etwa, weil sich die
Nager entschlossen hatten, sie anzugreifen, sondern weil ihre Zahl stetig zunahm und der Raum einfach
nicht genug Platz bot. Wie Abu Dun griff auch er nach seiner Waffe, obwohl er wusste, wie wenig sie
gegen diesen Feind auszurichten ver mochte. »Nicht bewegen«, flüsterte Abu Dun. »Ganz vorsichtig!
Eine hastige Bewegung, und sie fallen über uns her.«
Nervös fuhr sich Andrej mit der Zungenspitze über die Lippen. Die Luft schien noch trockener geworden
zu sein, und der Rattengestank war unerträglich und brannte bei jedem Atemzug wie Sand in seiner Kehle.
Sein Herz klopfte unter dem Ansturm einer Furcht, gegen die er hilflos war. Diese Tiere waren ein ernst zu
nehmender Gegner - er war weder vollkommen unverwundbar noch unsterblich, wie er erst vor wenigen
Tagen schmerzhaft am eigenen Leib erlebt hatte. Wenn sie Abu Dun und ihn tatsächlich angriffen, dann
standen ihre Chancen, lebend hier herauszukommen, mehr als schlecht.
Aber Ratten tun so etwas nicht. Geschichten von Ratten, die über Menschen herfielen und diese töteten
oder gar auffraßen, gehörten ins Reich der Legenden. Wenn sie die Nerven behielten und keine
unvorsichtige Bewegung machten, die die Tiere vielleicht dazu brachte, sie aus nackter Angst anzugreifen,
dann kamen sie
Weitere Kostenlose Bücher