Der Untergang
daß Flock die Stadt
aus einer Kraft erreichen würde, ging er zu Abu Dun zurück und schwang sich in den Sattel. Der Nubier
wollte sein Pferd auf der Stelle wenden und losreiten, aber Andrej verharrte abermals auf der Stelle.
»Worauf wartest du?«, fragte Abu Dun. »Mach dir keine Sorgen um deinen neunen Freund. Seine
Schäfchen werden sich schon um ihn kümmern.«
Andrej dachte nicht daran, auf Abu Duns spöttische Worte einzugehen. Er warte erneut einige Minuten
bis das Fuhrwerk mit seinem in sich zusammengesunkenen Lenker zwischen den ersten Gebäuden
verschwunden war, dann griff auch er nach den Zügeln, dirigierte sein Pferd aber nicht in die
Gegenrichtung, sondern herunter von der Straße, nach Osten.
»Was hast du vor?«, wollte Abu Dun wissen.
Andrej hatte wenig Lust zu antworten, aber das wäre nur Öl aufs Feuer gewesen, und schließlich hatte er
sich fest vorgenommen, dieses kindliche Hickhack zu beenden - oder die Sache zumindest nicht noch
weiter anzufachen. »Ich reite noch mal zur Mühle«, sagte er. »Ich will wissen, was da passiert ist.«
»Welche Mühle?«
»Lass den Unsinn, Sklavenhändler«, sagte Andrej entnervt.
»Und erzähl mir nicht, du hättest nicht gelauscht. Das wäre das erste Mal seit wir zusammen reiten.«
»Nicht das allererste Mal«, widersprach Abu Dun. Aber plötzlich lachte er. »Außerdem war es nicht nötig
zu lauschen.
Dein Christenfreund hat laut genug gesprochen. Ich hätte mir schon die Ohren verstopfen müssen, um ihn
nicht zu verstehen.«
»Dann wirst du auch verstehen, warum ich dorthin will.«
»Vielleicht fiele es mir leichter, wenn ich wüsste, was gestern Abend wirklich passiert ist«, antwortete
Abu Dun.
»Nichts«, sagte Andrej zum tausendsten Male. »Elena und ich haben geredet, das ist alles.«
»Ihre Brüder schienen da anderer Meinung zu sein.«
Andrej zuckte mit den Schultern und ließ sein Pferd weitertraben. »Dann haben sich ihre Brüder eben
getäuscht«, sagte er. »Und jetzt komm. Beeilen wir uns lieber. Es ist ein ziemlicher Umweg, wenn wir an
der Mühle vorbei reiten, und wie ich unseren Gastgeber kenne, fällt unser Abendessen aus, wenn wir nicht
pünktlich zur Vorstellung kommen und unseren Auftritt verpassen … Ganz davon abgesehen, dass Basons
empfindliche Künstlerseele nicht wieder gut zu machenden Schaden erleiden könnte.«
Er hatte den Weg unterschätzt.
Obwohl sie schnell ritten, brauchten sie fast eine halbe Stunde, ehe sie den Wald erreichten, in dem
Handmanns Mühle lag, und dann verging noch einmal eine schier endlose Zeit, in der sie auf dem
schmalen, unebenen Waldweg entlang ritten und Andrej darauf wartete, dass endlich die Flügel der
uralten Mühle über den Baumwipfeln auftauchten.
Ihm kam erst jetzt zu Bewusstsein, was für ein sonderbarer Ort ein Wald für eine Windmühle war obwohl sie auf einer Lichtung und auf der Kuppe eines Hügels lag, hätte er sich auf Anhieb ein Dutzend
Flecken in der Umgebung vorstellen können, an denen eine Mühle besser platziert gewesen wäre. Aber
dieser ganze Wald war ohnehin … seltsam. Gestern Abend, nach dem Streit mit Handmann und vor allem
nach seiner unheimlichen Begegnung im Hain, hatte er diesen Eindruck auf seine überspannten Nerven
geschoben, aber der Wald wirkte auch jetzt, im hellen Tageslicht, düster und abweisend, eine dunkle,
scheinbar undurchdringliche Mauer, die sich zu beiden Seiten des Weges erhob und der etwas
Abweisendes anhaftete, ohne dass er das Gefühl in Worte fassen konnte. Er lauschte aufmerksam in sich
hinein, tastete mit seinen scharfen Raubtiersinnen in die Dunkelheit, die hinter dem Dickicht lag, doch
diesmal spürte er keine Bedrohung, nichts, was Abu Dun und ihn belauerte, nichts, was nicht hier sein
sollte. Aber auch das, was hier sein sollte, war nicht da.
Gestern Abend hatte Elena gesagt, dass sie manchmal mit den Bäumen sprach, aber wenn dem so war,
hatte sie mit toten Bäumen gesprochen. Dieser Wald wirkte grün und saftig, aber jener Teil Andrejs, der
stets wach war und nach Beute suchte, spürte genau, wie falsch dieser Eindruck war. Ja, Abu Dun, er
selbst und die beiden Pferde waren die einzigen lebenden Kreaturen in weitem Umkreis.
Endlich tauchten die Windmühlenflügel über den Baumwipfeln auf, doch auch ihr Anblick brächte keine
wirkliche Erleichterung. Gestern Abend, in der Dunkelheit, hatte er sie nur als Schatten wahrgenommen,
nun aber sah er, dass sie, auch bei Tageslicht betrachtet, nicht mehr als ein Skelett waren.
Etliche der großen
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