Der Untergang
er. »Elena wird sich um ihn kümmern.«
Elena? Andrej sah den jungen Sinti überrascht an. Er konnte sich Elena bei einer Menge verschiedener
und unerwarteter Tätigkeiten vorstellen, aber kaum dabei, einen Verwundeten zu pflegen. Dennoch
widersprach er natürlich nicht, sondern legte sich Abu Duns Arm unauffällig so um die Schulter, dass er
den Großteil seines Gewichtes trug, und ging dann gehorsam neben Bason her in Richtung des großen
Wagens, in dem Elena und Laurus wohnten. Unterwegs begegneten ihnen zwei weitere Sinti, denen Bason
knapp und in einer Andrej unbekannten Sprache Befehle erteilte, woraufhin sie hastig wieder davon
eilten. Er fragte nicht danach, und die Bedeutung von Basons Worten wurde ihm auch klar, als sie den
Wagen erreichten. Sie waren noch nicht einmal ganz angelangt, da tauchten auch Elena und einen
Herzschlag später Laurus aus verschiedenen Richtungen aus der Dunkelheit auf und kamen ihnen
entgegen.
»Was ist passiert?«, fragte Laurus.
Elena verschwendete weniger Zeit. Sie maß Abu Duns Gesicht nur mit einem einzigen, knappen Blick,
machte dann eine Kopfbewegung zum Wagen und sagte: »Bringt ihn hinein. Und ich brauche heißes
Wasser und Verbandszeug.«
Sie gehorchten. Laurus stellte seine Frage ein zweites Mal, und auch jetzt, ohne eine Antwort zu
bekommen, und die nächste halbe Stunde verbrachten Elena und er gemeinsam damit, Abu Duns Wunden
zu reinigen und zu verbinden, nachdem sie ihn die kurze Leiter in den Wagen hinauf bugsiert und aus
seinen zerrissenen Gewändern gewickelt hatten. Andrej musste seine Meinung über Elena revidieren; sie
ging vielleicht nicht so besonders sanft mit ihrem Patienten um, aber was sie tat, zeugte von großer
Sachkunde.
Es war ganz eindeutig nicht das erste Mal, dass sie sich um einen Verwundeten kümmerte.
Als sie endlich fertig waren, wollte sich Andrej erschöpft zurücklehnen, aber Elena drehte sich mit einem
befehlenden Kopfschütteln in seine Richtung und sagte: »Jetzt du!«
»Mir fehlt nichts«, sagte Andrej. »Vielleicht ein paar Stunden Schlaf, aber das ist auch alles.«
»Mach’ dich nicht lächerlich«, antwortete Elena. »Oder gehörst du auch zu denjenigen, die Dummheit mit
Tapferkeit verwechseln?«
»Mir ist wirklich nichts passiert«, versicherte Andrej. Da er in Elenas Augen las, dass sie ihm kein Wort
glaubte, tauchte er die Hände in die Schale mit warmem Wasser, die neben Abu Duns Bett stand, wusch
sich die Finger und benutzte anschließend einen der überzähligen Verbände, um sich auch das Gesicht
sauber zu wischen.
Elena riss überrascht die Augen auf. »Du hast nicht einen Kratzer!«
»Ich hatte Glück«, antwortete Andrej. Leiser und mit einem stirnrunzelnden Blick in Abu Duns Richtung
fügte er hinzu:
»Jedenfalls mehr als er. Wird er es überleben?«
»Rattenbisse sind nicht ungefährlich«, erwiderte Elena.
»Ich fürchte, er wird ein paar Tage Fieber haben, vielleicht sogar länger. Aber er ist stark.«
»Und du bist wirklich unverletzt?«, fragte Laurus. Er hatte die ganze Zeit schweigend dabeigestanden und
ohne ein Wort oder irgendeine Frage zu stellen zugesehen, aber sein Gesichtsausdruck hatte sich mehr und
mehr verfinstert.
Vermutlich war es auch nicht besonders schwer gewesen, zu raten, was geschehen war; sie hatten
zahlreiche abgebrochene Krallen und Fellbüschel aus Abu Duns Wunden entfernt, aus einer sogar einen
abgebrochenen Rattenzahn, und als sie ihn ausgezogen hatten, war der abgerissene Hinterlauf eines der
kleinen Ungeheuer aus den Fetzen seiner Kleidung gefallen.
»Ich hätte weniger Glück gehabt, wenn Abu Dun mich nicht beschützt hätte«, antwortete Andrej - eine
erbärmliche Lüge, aber das Erste, was ihm einfiel, und darüber hinaus vermutlich das, was einer
glaubhaften Ausrede noch am nächsten kam.
»Was ist passiert?«, wollte Laurus wissen. »Wenn du nicht verletzt bist, dann wirst du ja wenigstens die
Kraft haben, mir jetzt auf diese Frage zu antworten.«
Andrej schluckte die scharfe Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Stattdessen erzählte er Laurus
die Geschichte, auf die Abu Dun und er sich geeinigt hatten. Laurus musste dazu nichts sagen, damit
Andrej erkannte, dass er ihm kein Wort glaubte. Als er von ihrer Begegnung mit Handmann und den
beiden anderen berichtete, umwölkte sich die Stirn des Sinti noch mehr.
»Wer war dieser … Schulz?«
»Mehr als seinen Namen weiß ich auch nicht«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Aber ich hatte das
Gefühl, dass er ein Mann von großem
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