Der Untergang
hinauszugehen und sich wieder
unter all diese lachenden, fröhlichen Menschen zu mischen und so zu tun, als wäre nichts geschehen,
zutiefst zuwider. Irgendwie wäre es ihm wie Verrat an Abu Dun vorgekommen.
Nun, ganz plötzlich, wusste er, was er zu tun hatte. Es gab nur einen Menschen hier, der ihm sagen
konnte, ob es einen Ausweg für ihn gab und ob das, was er Abu Dun um ein Haar angetan hätte, die
Antworten wert war, derentwegen er hergekommen war.
Er stand auf, tastete im Halbdunkel nach den Satteltaschen, die er am Morgen aus dem Zelt geholt und
achtlos in eine Ecke geworfen hatte, und suchte mit einiger Mühe sein zweites Paar Kleider heraus, das
genau genommen jetzt sein einziges war, denn das, was die Ratten übrig gelassen hatten, waren im Grunde
nicht mehr als Fetzen. Aus einem unerfindlichen Grund zögernd, schnallte er sein Schwert ab, lehnte es
neben dem Bett an die Wand und verließ dann den Wagen.
Wie vorhin, als Abu Dun und er gekommen waren, nahm er einen Umweg in Kauf, um nicht mitten durch
das Lager hindurchmarschieren zu müssen. Unweit der Pferdekoppel gab es einen schmalen, aber
kristallklaren Bach, in dem er sich ausgiebig wusch, um das eingetrocknete Blut zu entfernen, aber auch,
weil er sich noch immer auf eine schwer greifbare Art besudelt und beschmutzt fühlte, von etwas berührt,
von dem kein lebendes Geschöpf auf dieser Welt berührt werden sollte.
Der Bach war nicht nur klar und reißend, sein Wasser war auch eiskalt, trotz der seit Wochen anhaltenden
Hitzewelle. Als Andrej endlich das Gefühl hatte, sich zumindest den körperlichen Schmutz vom Leib
gewaschen zu haben und nackt und frierend wieder aus dem Wasser trat, da zitterten seine Hände vor
Kälte und sein Atem dampfte. Er blieb lange genug reglos in der Dunkelheit stehen, bis der warme
Nachtwind seine Haut getrocknet hatte. Dann zog er seine sauberen Kleider an und durchsuchte noch
einmal die Fetzen seiner alten Hose und des Hemdes, um sich davon zu überzeugen, dass nichts in den
Taschen zurückgeblieben war. Er fand nichts, abgesehen von etwas, das er im ersten Moment für ein
Fellbüschel hielt, das sich jedoch als abgerissenes Rattenohr entpuppte. Angewidert schleuderte er es in
die Dunkelheit.
Die Fetzen seiner Kleidung schienen des Mitnehmens mehr wert, aber Andrej wollte auch nicht, dass sie
irgendjemand fand und überflüssige Fragen stellte und sich vielleicht noch ein paar Gedanken machte.
Seine Behauptung, wie durch ein Wunder ohne einen einzigen Kratzer davongekommen zu sein, während
Abu Dun dem Tod näher war als dem Leben, war ohnehin dünn genug. Also nahm er die Kleider auf,
rollte sie zu einem Ball zusammen und ging mit gesenktem Blick und möglichst beiläufig wieder zum
Lager zurück, um das Bündel in eines der zahlreichen Feuer zu werfen, die weniger brannten, um die
Dunkelheit zu vertreiben, als mehr, um die Stimmung unter den Gästen anzuheizen und dafür zu sorgen,
dass sie Wein und Bier ausreichend zusprachen und ihre Geldbörsen entsprechend locker saßen. Zu seiner
Erleichterung sprach ihn niemand an. Elena war vermutlich noch im Wagen und bei Abu Dun, von Laurus
war keine Spur zu sehen, und Bason und Rason entdeckte er oben auf der Bühne, wo sie ihr Bestes taten,
um sich zum Narren zu machen. Natürlich kannte ihn jeder hier im Lager, auch wenn er, abgesehen von
den vier Vorgenannten, mit keinem der Sinti bisher mehr als ein paar belanglose Worte gewechselt hatte,
aber die Zigeuner schienen ausnahmslos beschäftigt, und er baute darauf, dass er, noch dazu mit
veränderter Kleidung, einfach in der Menge der Besucher untergehen würde, sodass ihm niemand einen
zweiten Blick schenkte. Rasch, aber ohne sichtbare und verräterische Hast, zog er sich wieder aus dem
Lichtkreis des Feuers zurück und ging zum anderen Ende des Lagers.
Diesmal näherte er sich Ankas Wagen nicht direkt, sondern blieb im Schutze eines der anderen Karren
stehen und tastete die nähere Umgebung sowohl mit seinen Blicken als auch mit seinen anderen Sinnen
ab. Er hatte die schattenhafte Gestalt nicht vergessen, die am ersten Abend, als Abu Dun und er hier
gewesen waren, in einer Ecke gestanden hatte und den Wagen beobachtete. Heute aber gab es eindeutig
niemanden, der Ankas Wagen bewachte.
Hinter den unter der Last der Jahre schon halb auseinander gebrochenen Fensterläden brannte kein Licht,
und auch als Andrej vorsichtig näher ging, hörte er nicht das mindeste Geräusch. Aber wozu brauchte eine
blinde Frau Licht?
Vermutlich
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