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Der Untergang

Der Untergang

Titel: Der Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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schlief die Puuri Dan längst, und Andrej erinnerte sich jetzt auch an mehr als nur eine
Bemerkung Basons, wonach die Hundertjährige dem Wein offensichtlich mehr zugetan war, als man bei
einer Frau ihres Alters erwarten mochte. Er zögerte, als er die drei Stufen zur Treppe hinaufstieg, schob
dann aber die letzten Bedenken beiseite und öffnete die Tür.
Dahinter war es vollkommen dunkel. Andrej blieb einen Moment reglos stehen und lauschte auf Ankas
Atemzüge oder irgendein anderes Lebenszeichen, aber die Stille war ebenso vollkommen wie die
Dunkelheit, die ihn umgab. Vorgichtig, mit tastend vorgestreckten Händen, um nicht in der Dunkelheit
gegen ein Hindernis zu stoßen oder ein verräterisches Geräusch zu verursachen, suchte er sich seinen Weg
zur jenseitigen Wand des Raumes und der Tür, die er darin gesehen hatte, öffnete auch sie und blieb noch
einmal stehen, um erneut und noch konzentrierter zu lauschen. Aber auch hier war niemand. Selbst wenn
er die Anwesenheit der alten Frau nicht gespürt hätte, so hätte er doch wenigstens ihre Atemzüge hören
müssen, in der vollkommenen Stille, die hier drinnen herrschte.
Aber er hörte nichts, er fühlte nichts. Anka war nicht da.
Irritiert blieb Andrej noch eine Weile genau da stehen, wo er sich befand, und versuchte, diese
Entdeckung richtig zu bewerten. Dass die alte Frau ihren Wagen verlassen hatte, war an sich nichts
Ungewöhnliches, wohl aber, dass sie es zu dieser Zeit tat. Und noch dazu an einem Abend wie heute, an
dem es im Lager von Fremden nur so wimmelte. Auch jemand, der nicht über Andrejs besondere Sinne
verfügte, konnte unmöglich übersehen, dass es sich bei der Puuri Dan vermutlich um den ältesten
Menschen handelte, der jemals gelebt hatte - und wenn Laurus im Moment an einem gelegen sein musste,
dann daran, kein Aufsehen zu erregen und vor allem keinen Anlass zu neugierigen Fragen zu geben. Ein
weiterer Mosaikstein in dem Bild, das Andrej allmählich sah, ohne dass es indes bisher irgendeinen Sinn
zu ergeben schien.
Andrej blieb eine geraume Weile unter der geöffneten Tür stehen und versuchte, seine Gedanken zu
ordnen. Schließlich aber verließ er den Wagen wieder und sah sich draußen unschlüssig um. Gegen
Laurus’ ausgesprochenen Willen hierher zu kommen, um mit der Puuri Dan zu reden, war eine riskante
Idee gewesen, denn spätestens Laurus’ Auftritt von vorhin hatte ihm klar gemacht, dass der Sinti nur noch
nach einem Vorwand suchte, um Abu Dun und ihn davonzujagen.
Aber es widerstrebte ihm, so einfach aufzugeben, gerade weil er so viel riskiert hatte. Er überlegte einen
Moment, sich an Bason oder seinen Bruder zu wenden, entschied sich aber dann dagegen und machte sich
wieder auf den Weg zu Laurus’ Wagen. Wenn Elena und Abu Dun allein waren, dann würde er diesmal
darauf bestehen, von Elena gewisse Antworten zu bekommen, und sollte Laurus wieder zurückgekehrt
sein, würde er einfach behaupten, er wäre noch einmal gekommen, um nach Abu Dun zu sehen.
Er musste diesmal keinen Umweg machen, um das Lager zu umgehen, denn der Wagen, den Laurus und
Elena bewohnten, befand sich nur ein knappes Dutzend Schritte entfernt. Trotzdem ging Andrej nicht auf
direktem Wege dorthin, sondern huschte lautlos von Schatten zu Schatten und nutzte die Deckung der
anderen Wagen aus, um sich ungesehen zu nähern. Ihm war klar, welches Misstrauen dieses Benehmen
wecken musste, sollte ihn jemand zufällig beobachten, aber er hatte dennoch das sichere Gefühl, dass es
besser war, nicht gesehen zu werden.
Und dieses Gefühl sollte ihn nicht täuschen. Wie zuvor blieb er auch diesmal im Schlagschatten seines
Wagens stehen, um den bunt bemalten, vierrädrigen Karren zu beobachten, bevor er sich ihm endgültig
näherte. Auch vor seinen Fenstern waren die Läden vorgelegt, aber durch die dünnen Ritzen schimmerte
gelbes Licht, und nachdem er einen kurzen Moment gelauscht hatte, vernahm er Stimmen. Sie waren zu
leise, um sie eindeutig zu identifizieren, aber er glaubte, zumindest die Elenas zu erkennen, und dazu noch
zwei, vielleicht sogar drei andere, die aufgeregt miteinander diskutierten, sich möglicherweise sogar
stritten.
Andrej war unschlüssig, was er nun tun sollte. Sein Gespräch mit Laurus heute Mittag und die Blicke, die
der Sinti vorhin Elena zugeworfen hatte, erzählten eine eigene und eindeutige Geschichte, und je länger er
lauschte, desto sicherer war er, Zeuge eines heftiges Streites zu werden, auch wenn er die Worte immer
noch nicht verstand.

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