Der Untergang
Die Vorstellung, dass Elena und Laurus miteinander stritten, machte ihn nervöser als
sie sollte. Was immer zwischen diesen beiden vorging, ging ihn nichts an. Trotzdem hatte er das absurde
Gefühl, Elena gegenüber in der Pflicht zu sein, sie immer und unter allen Umständen zu verteidigen, ganz
egal, ob sie im Recht war oder nicht.
Er war gerade zu dem Entschluss gekommen, näher an den Wagen heranzugehen, um vielleicht besser
verstehen zu können, was hinter der geschlossenen Tür gesprochen wurde, als er einen wütenden Schrei
hörte und gleich darauf das typische Klatschen eines Schlages. Nur einen Augenblick später wurde die Tür
aufgerissen, und Laurus stürmte heraus. Mit einem einzigen Satz überwand er die paar Stufen bis zum
Boden und entfernte sich mit weit ausgreifenden, zornigen Schritten. Andrej sah ihm verwirrt und
alarmiert zugleich nach, wandte sich dann aber wieder dem Wagen zu. Die Tür hatte sich hinter Laurus
nicht geschlossen, und er sah flackerndes, gelbes Licht und Schatten, die sich hektisch zu bewegen
schienen. Die Stimmen waren nun deutlicher, aber er konnte sie immer noch nicht verstehen, denn sie
sprachen wieder in jenem fremden und zugleich doch so sonderbar vertraut erscheinenden Dialekt, den er
schon ein paar Mal in diesem Lager gehört hatte und der vermutlich die Muttersprache dieser SintiFamilie war. Dann erschien Elena unter der Tür. Obwohl er sie nur als schwarzen Umriss vor dem hell
erleuchteten Hintergrund erkennen konnte, war nicht zu übersehen, wie aufgelöst und zornig sie war. Sie
sprang nicht die Stufen hinab wie Laurus vor ihr, überwand sie aber genauso schnell, sodass es kaum
einen Unterschied machte, und obwohl sie nach zwei Schritten bereits wieder stehen blieb und sich zum
Wagen herumdrehte, machte es im ersten Moment trotzdem den Anschein, als ob sie hinter ihrem Mann
herstürmen und ihn aufgebracht zur Rede stellen wollte. Er hatte sich nicht getäuscht.
Er war Zeuge eines Streites geworden. Eines sehr heftigen Streites offensichtlich.
Alles in Andrej schrie danach, aus seinem Versteck herauszutreten und Elena zu fragen, was passiert war
und ob sie Hilfe benötigte. Stattdessen zog er sich jedoch ein winziges Stückchen tiefer in die Schatten
zurück und beobachtete aufmerksam, was weiter geschah. Elena rief etwas zu jemandem, der sich noch im
Wagen aufhalten musste, bekam eine Antwort in der gleichen, unverständlichen Sprache, und nur einen
Herzschlag später erschien einer ihrer Brüder unter der Tür - ob Rason oder Bason, konnte Andrej bei
dem schlechten Licht nicht sagen; die beiden waren ja schon im hellen Sonnenschein so gut wie nicht
auseinander zu halten. Zusammen mit einer zweiten, deutlich kleineren und gebückt gehenden Gestalt, die
sich so unsicher bewegte, dass er sie auf jeder Stufe stützen musste, verließ auch Elenas Bruder den
Wagen, und dicht hinter ihm und seiner Begleitung tauchte ein dritter, fast identischer Umriss unter der
Tür auf; der andere Zwilling.
Bei der Gestalt, die er und sein Bruder zwischen sich führten, handelte es sich um niemand anderes als
Anka. Das Licht, das aus dem Wagen nach draußen fiel, war zu schwach, um ihr Gesicht zu erkennen,
aber Andrej identifizierte eindeutig ihre schmale, gebückte Gestalt, das strähnige Haar, und er konnte
sogar schwach ihre Ausdünstung wahrnehmen; jener typische Geruch, der nur wirklich alten Menschen
anhaftet und die Lebenden daran erinnert, wie kurz die Spanne ist, die ihnen noch bleibt. Nun, wenigstens
wusste er jetzt, warum die Puuri Dan nicht in ihrem Wagen gewesen war.
Elena und Anka wechselten noch einige Worte in jener Andrej unverständlichen Sprache: Elena sprach
laut, erregt, fast aggressiv, Anka in einem vollkommen anderen, zugleich besänftigenden wie
gebieterischen Tonfall. Schließlich machte Elena eine zornige Kopfbewegung, und ihre beiden Brüder
nahmen die alte Zigeunerin in die Mitte und führten sie langsam in Richtung ihres Wagens davon. Elena
blieb reglos und hoch aufgerichtet stehen und sah ihnen nach. Sie machte keine Anstalten, in den Wagen
zurückzugehen oder sich vielleicht in die entgegengesetzte Richtung zu wenden, um Laurus zu folgen.
Andrej wartete, bis die Schritte in der Dunkelheit verklungen waren, dann trat er lautlos aus seinem
Versteck hervor und ging auf Elena zu. Die Sinti blickte immer noch in die Richtung, in der ihre Brüder
und die Puuri Dan verschwunden waren, und obwohl sich Andrej keine Mühe gab, leise zu sein, bemerkte
sie ihn erst, als
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