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Der Untergang

Der Untergang

Titel: Der Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ihm im Lager hatte eher noch zugenommen, obwohl es mittlerweile schon spät war, aber
das war Andrej im Moment nur Recht. Solange die Sinti damit beschäftigt waren, ihre Gäste zu
unterhalten und ihnen das Geld aus den Taschen zu ziehen, bestand wohl kaum die Gefahr, dass jemand
hierher kam und ihn überraschte.
Er löste sich aus seinem Versteck, betrat den Wagen, zog die Tür hinter sich zu und wollte einen Moment
stehen bleiben, damit sich seine Augen an das praktisch nicht vorhandene Licht hier drinnen gewöhnten.
Noch ehe das Geräusch der Tür hinter ihm ganz verklungen war, sagte eine Stimme in der Dunkelheit
irgendwo links von ihm:
»Du brauchst nicht zu schleichen, Unsterblicher. Wir sind allein. Und so leise, dass eine blinde Frau dich
nicht hört, kannst nicht einmal du auftreten.«
Ein wenig verlegen drehte sich Andrej in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Trotz seiner
scharfen Augen konnte er nur verschwommene Umrisse erkennen.
»Warum hast du so lange draußen gestanden und gewartet?«, fragte Anka. »Du musst keine Angst haben,
dass uns jemand stört. Meine beiden Urenkel sind längst fort, und außer ihnen und Elena kommt selten
jemand hierher.«
»Urenkel?«, wiederholte Andrej - hauptsächlich, um überhaupt irgend etwas zu sagen.
»Vielleicht sind es auch schon meine Ur-ur-ur-Enkel.« Anka lachte leise und meckernd. »Wenn man
einmal so alt geworden ist wie ich, dann verliert man leicht den Überblick. Und eigentlich spielt es auch
keine Rolle, oder? Aber du bist sicherlich nicht gekommen, um dich über meine Familie zu unterhalten.«
»Nein«, antwortete Andrej. »Ich bin -«
»Du warst vorhin bei Laurus’ Wagen«, unterbrach ihn Anka.
»Woher weißt du das?«
»Ich bin vielleicht blind, aber nicht taub«, erwiderte Anka.
»Laurus und die anderen scheinen es gottlob aber zu sein, sonst hätten sie dich zweifellos gehört. Ich
sollte enttäuscht sein. Ich dachte immer, dass sich Menschen deiner Art lautloser zu bewegen imstande
sind.«
»Menschen meiner Art?«
»Ich bin auch nicht dumm«, sagte Anka, eine Spur schärfer.
»Aber du scheinst es zu sein. Oder du hast ein kurzes Gedächtnis - oder hast du schon vergessen, was wir
bei deinem letzten Besuch besprochen haben?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Ich habe vor allem nicht vergessen, dass du mir mehr Fragen gestellt als du
Antworten gegeben hast.«
»Und deshalb bist du jetzt hier«, vermutete Anka. Wieder lachte sie, aber diesmal klang es eher wie ein
Meckern.
Sonderbarerweise war Andrej immer noch nicht in der Lage, sie genau zu erkennen. Seine Augen hatten
sich längst an das schwache Dämmerlicht gewöhnt, aber er sah in der Richtung, aus der ihre Stimme kam,
trotzdem nur verschwommene Schatten.
Einer davon schien sich dann und wann zu bewegen, aber er war nicht sicher, welcher. »Und was willst du
jetzt tun? Die Antworten, die du hören willst, aus mir herausprügeln?«
»Bestimmt nicht«, antwortete Andrej. »Ich glaube auch nicht, dass das nötig ist.«
»Dann stell’ deine Fragen«, sagte Anka. »Aber tu’ es schnell.
Ich bin alt. Und alte Menschen brauchen viel Schlaf.«
»Ich dachte immer, alte Menschen brauchen besonders wenig Schlaf.«
»Nicht, wenn sie so alt sind wie ich«, erwiderte Anka, nun vollends in ungeduldigem, fast mürrischem
Tonfall. »Wenn du wissen willst, ob dein trinkfester Freund die Nacht überleben wird, kann ich dich
beruhigen. Er ist stark wie ein Ochse. Es gehört schon etwas mehr dazu als ein paar Rattenbisse, ihn
umzubringen.«
»Du weißt, was passiert ist?«
»Laurus hat es mir erzählt«, antwortete Anka. »Und dein Freund auch. Redet er nur im Fieber, oder
manchmal auch im Schlaf?«
Andrej überging die Frage. Er fühlte sich immer verwirrter, und aus dieser Verwirrung erwuchsen
allmählich Ungeduld und Zorn. Er war mit dem festen Vorsatz hierher gekommen, sich diesmal nicht
wieder abspeisen zu lassen, sondern nicht eher zu gehen, bis er Antworten auf wenigstens einige seiner
Fragen erhalten hatte, aber er spürte bereits jetzt, dass ihm das Gespräch auch diesmal wieder zu
entgleiten drohte. Die Puuri Dan hatte etwas an sich, dem er einfach nicht gewachsen war. »Ich will
wissen, was heute in der Mühle passiert ist«, sagte er. »Und komm’ mir nicht damit, dass du es nicht weißt.
Diese Ratten waren keine normalen Ratten.«
»Sie waren krank«, antwortete Anka. »Das hast du doch selbst erzählt.«
»Und du weißt genau, dass es nicht stimmt!«, rief Andrej. Ein Teil von ihm war

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