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Der Untertan

Der Untertan

Titel: Der Untertan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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war alles auf den Beinen, außer dem Polizeileutnant. Der alte Buck hatte den Platz des Vorsitzenden verlassen, und abgekehrt von dem Volk, über das der letzte Schrei seines Gewissens vergebens hingegangen war, abseits und allein, richtete er die Augen dorthin, wo niemand sah, daß sie weinten. Heuteufel sprach entrüstet auf den Polizeileutnant ein, der sich von seinem Stuhl nicht rührte, ward aber darüber belehrt, daß der Beamte allein entscheide, ob und wann er auflöse. Es brauchte nicht grade in dem Augenblick zu geschehen, wo es für den Freisinn schlecht stand! Worauf Heuteufel zum Tisch ging und die Glocke führte. Dazu schrie er: »Der zweite Name!« Und da alle Herren auf der Bühne mitschrien, hörte man es endlich, und Heuteufel konnte fortfahren.
    »Der zweite, der in Gausenfeld war, ist Herr Landgerichtsrat Kühlemann! Stimmt. Kühlemann selbst. Derselbe Kühlemann, aus dessen Nachlaß das Säuglingsheim gebaut werden soll. Will jemand behaupten, Kühlemann bestiehlt seinen eigenen Nachlaß? Na also!« — und Heuteufel zuckte die Achseln, worauf beifällig gelacht ward. Nicht lange; die Leidenschaften fauchten schon wieder. »Beweise! Kühlemann soll selbst reden! Diebe!« Herr Kühlemann sei schwerkrank, erklärte Heuteufel. Man werde hinschicken, man telefoniere schon. »Auweh«, raunte Kunze seinem Freunde Diederich zu. »Wenn Kühlemann es war, sind wir fertig und können einpacken.« — »Noch lange nicht!« verhieß Diederich, tollkühn. Pastor Zillich seinerseits setzte seine Hoffnung nur mehr auf den Finger Gottes. Diederich in seiner Tollkühnheit sagte: »Brauchen wir gar nicht!« — und er machte sich über einen Zweifler her, dem er zuredete. Die Gutgesinnten reizte er zu entschiedener Stellungnahme, ja, er drückte Sozialdemokraten die Hand, um ihren Haß gegen die bürgerliche Korruption zu verstärken — und überall hielt er den Leuten Klüsings Brief vor die Augen. Er schlug so heftig mit dem Handrücken auf das Papier, daß niemand lesen konnte, und rief: »Steht da Kühlemann? Da steht Buck! Wenn Kühlemann noch japsen kann, wird er zugeben müssen, daß er es nicht war. Buck war es!«
    Dabei überwachte er dennoch die Bühne, wo es merkwürdig still geworden war. Die Herren des Komitees liefen durcheinander, aber sie flüsterten nur. Den alten Buck sah man nicht mehr. »Was ist los?« Auch im Saal ward es ruhiger, noch wußte man nicht, warum. Plötzlich hieß es: »Kühlemann soll tot sein.« Diederich fühlte es mehr, als daß er es hörte. Er gab es plötzlich auf, zu reden und sich abzuarbeiten. Vor Spannung schnitt er Gesichter. Wenn jemand ihn fragte, antwortete er nicht, er vernahm ringsum ein wesenloses Gewirr von Lauten und wußte nicht mehr deutlich, wo er war. Dann kam aber Gottlieb Hornung und sagte: »Er ist weiß Gott tot. Ich war oben, sie haben telefoniert. Im Moment ist er gestorben.«
    »Im richtigen Moment«, sagte Diederich und sah sich um, erstaunt, als erwachte er. »Der Finger Gottes hat sich wieder mal bewährt«, stellte Pastor Zillich fest, und Diederich ward sich bewußt, daß dieser Finger doch nicht zu verachten war. Wie, wenn er dem Schicksal einen andern Lauf angewiesen hätte?... Die Parteien im Saal lösten sich auf; das Eingreifen des Todes in die Politik machte aus den Parteien Leute; sie sprachen gedämpft und verzogen sich. Als er schon draußen war, erfuhr Diederich noch, der alte Buck habe eine Ohnmacht erlitten.
    Die »Netziger Zeitung« berichtete über die »tragisch verlaufene Wahlversammlung« und schloß daran einen ehrenvollen Nachruf für den hochverdienten Mitbürger Kühlemann. Den Verblichenen traf kein Makel, wenn etwa Dinge vorgefallen waren, die der Aufklärung bedurften ... Das weitere geschah, nachdem Diederich und Napoleon Fischer eine Besprechung unter vier Augen gehabt hatten. Noch am Abend vor der Wahl hielt die »Partei des Kaisers« eine Versammlung ab, von der die Gegner nicht ausgeschlossen waren. Diederich trat auf und geißelte mit flammenden Worten die demokratische Korruption und ihr Haupt in Netzig, das mit Namen zu nennen die Pflicht eines kaisertreuen Mannes sei — aber er nannte es doch lieber nicht. »Denn, meine Herren, das Hochgefühl schwellt mir die Brust, daß ich mich verdient mache um unseren herrlichen Kaiser, wenn ich seinem gefährlichsten Feinde die Maske abreiße und Ihnen beweise, daß er auch nur verdienen will.« Hier kam ihm ein Einfall, oder war es eine Erinnerung, er wußte nicht.

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