Der Untertan
Anklageschrift zugestellt habe, fand Diederich seinen Tisch im Ratskeller leer. Professor Kühnchen zog sich eben den Mantel an, Diederich konnte ihn noch am Kragen packen. Aber Kühnchen hatte es eilig, er mußte im freisinnigen Wählerverein gegen die neue Militärvorlage reden. Er entwischte; und Diederich dachte enttäuscht jener sieghaften Nacht, als draußen das Blut des inneren Feindes, hier aber Sekt geflossen war und als unter den Nationalgesinnten Kühnchen der kriegslustigste gewesen war. Jetzt sprach er gegen die Vermehrung unseres ruhmreichen Heeres! ... Diederich sah, einsam und verlassen, in seinen Dämmerschoppen; da erschien Major Kunze.
»Nanu, Herr Major«, sagte Diederich mit erzwungener Munterkeit, »von Ihnen hört man gar nichts mehr.«
»Von Ihnen um so mehr.« Der Major knurrte, blieb in Hut und Mantel stehen und sah sich um, wie in einer Schneewüste. »Kein Mensch da!«
»Wenn ich Sie zu einem Glas Wein einladen darf —«, wagte Diederich zu sagen, aber er kam übel an. »Danke, Ihr Sekt liegt mir noch im Magen.« Der Major bestellte Bier und saß da, stumm und mit einem Gesicht zum Fürchten. Um nur das schreckliche Schweigen zu beenden, sagte Diederich drauflos: »Nun, und der Kriegerverein, Herr Major? Ich habe immer geglaubt, ich würde einmal etwas hören über meine Aufnahme.«
Der Major sah ihn lange nur an, als wollte er ihn fressen. »Ach so. Sie haben geglaubt. Sie haben wohl auch geglaubt, es würde mir eine Ehre sein, wenn Sie mich in Ihre Skandalaffäre hineinziehen?«
»Meine?« stotterte Diederich. Der Major donnerte. »Jawohl, Herr! Ihre! Dem Herrn Fabrikbesitzer Lauer ist mal ein Wort zuviel ausgerutscht, das kann vorkommen, sogar bei alten Soldaten, die sich für ihren König haben zu Krüppeln schießen lassen. Sie aber haben den Herrn Lauer raffinierterweise zu seinen unbedachten Äußerungen verleitet. Das bin ich bereit, vor dem Untersuchungsrichter zu bekunden. Den Lauer kenne ich: der war in Frankreich mit und ist in unserm Kriegerverein. Sie, Herr, wer sind Sie? Weiß ich, ob Sie überhaupt gedient haben? Her mit Ihren Papieren!«
Diederich griff in die Brusttasche. Er würde strammgestanden haben, wenn der Major es befohlen hätte. Der Major hielt sich den Militärpaß weit von den Augen fort. Plötzlich warf er ihn hin, er feixte grimmig. »Na also. Landsturm mit der Waffe. Hab ich es nicht gesagt? Plattfüße wahrscheinlich.« Diederich war bleich, bebte bei jedem Wort des Majors und hielt beschwörend die Hand vor sich hin. »Herr Major, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich gedient habe. Infolge eines Unglücksfalles, der mir nur zur Ehre gereicht, mußte ich nach drei Monaten austreten...«
»Solche Unglücksfälle kennen wir... Zahlen!«
»Sonst wäre ich ganz dabeigeblieben«, sagte Diederich noch, mit fliegender Stimme. »Ich war mit Leib und Seele Soldat, fragen Sie meine Vorgesetzten.«
»Nabend.« Der Major hatte schon den Mantel an. »Ich will Ihnen bloß noch sagen, Herr: Wer nicht gedient hat, den gehen die Majestätsbeleidigungen andrer Leute den Teufel an. Majestät legt keinen Wert auf nicht gediente Herrschaften... Grützmacher«, sagte er zum Wirt, »Sie sollten sich Ihr Publikum genauer ansehen. Wegen eines Gastes, der mal zuviel da ist, ist nun der Herr Lauer beinahe verhaftet worden, und ich muß mit meinem steifen Bein zu Gericht als Belastungszeuge und es mit allen Leuten verderben. Der Harmonieball ist schon abgesagt, ich bin beschäftigungslos, und wenn ich hier zu Ihnen komme« — er warf wieder einen Blick wie über Schneewüsten —, »ist kein Mensch da. Außer, natürlich, der Denunziant!« schrie er noch auf der Treppe.
»Mein Ehrenwort, Herr Major —«, Diederich lief hinterher, »ich habe keine Anzeige erstattet, das Ganze ist ein Mißverständnis.« Der Major war schon draußen. Diederich rief ihm nach: »Wenigstens bitte ich um Ihre Diskretion!«
Er trocknete die Stirn. »Herr Grützmacher, Sie müssen doch einsehen —«, sagte er, mit Tränen in der Stimme. Da er Wein bestellte, sah der Wirt alles ein.
Diederich trank und schüttelte wehmütig den Kopf. Diese Fehlschläge begriff er nicht. Seine Absichten waren rein gewesen, nur die Tücke seiner Feinde verdunkelte sie... Da erschien der Landgerichtsrat Doktor Fritzsche, sah sich zögernd um — und als er Diederich wirklich ganz allein fand, kam er zu ihm. »Herr Doktor Heßling«, sagte er und gab ihm die Hand, »Sie sehen ja aus, als ob Ihnen die Ernte
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