Der Untertan
ließ sich berauschen. »Das Erwachen des Bürgers!« rief er aus. »Die wahrhaft nationale Gesinnung! Die stille Tat eines Lauer tut mehr dafür als hundert hallende Monologe selbst eines gekrönten Künstlers!«
Sofort klappte Sprezius wieder; und man sah ihm an, er hatte sich besonnen, wie die Dinge eigentlich lagen, und versprach sich, nicht zum zweiten Male auf den Leim zu gehen. Jadassohn feixte; und im Saal fühlten die meisten, der Verteidiger habe verspielt. Unter allgemeiner Unruhe ließ der Vorsitzende ihn das Lob des Angeklagten beenden.
Als Buck sich dann setzte, wollten die Schauspieler klatschen; aber Sprezius hackte nicht einmal mehr zu, er warf nur einen gelangweilten Blick hin und fragte, ob der Herr Staatsanwalt zu replizieren wünsche. Jadassohn verneinte geringschätzig, und der Gerichtshof zog sich rasch zurück. »Das Urteil wird bald gefunden sein«, sagte Diederich mit Achselzucken — obwohl ihm von Bucks Rede noch arg beklommen war. »Gott sei Dank!« sagte die Schwiegermutter des Bürgermeisters. »Man sollte nicht glauben, daß vor fünf Minuten die Leute noch obenauf waren.« Sie wies auf Lauer, der sich das Gesicht trocknete, und auf Buck, den wahrhaftig die Schauspieler beglückwünschten.
Schon kehrten die Richter zurück, und Sprezius verkündete das Urteil: sechs Monate Gefängnis — was allen die natürlichste Lösung schien. Dazu war noch auf Verlust der vom Angeklagten bekleideten öffentlichen Ämter erkannt worden.
Der Vorsitzende begründete das Urteil damit, daß eine beleidigende Absicht zum Tatbestande des Delikts nicht erforderlich sei. Daher tue auch die Frage, ob eine Provokation stattgefunden habe, nichts zur Sache. Im Gegenteil: daß der Angeklagte es gewagt habe, vor nationalgesinnten Zeugen so zu sprechen, falle erschwerend ins Gewicht. Die Behauptung des Angeklagten, daß er nicht den Kaiser gemeint habe, sei vom Gericht für hinfällig befunden. »Den Hörern der Rede mußte sich — namentlich bei ihrer Parteistellung und der ihnen bekannten antimonarchischen Richtung des Angeklagten — die Ansicht aufdrängen, daß seine Äußerung sich gegen den Kaiser richte. Wenn der Angeklagte vorgibt, daß er sich wohl gehütet habe, eine Majestätsbeleidigung zu begehen, so hat er eben nicht die Beleidigung selbst, sondern nur ihre strafrechtlichen Folgen vermeiden wollen.«
Dies leuchtete allen ein, man fand es von Lauer begreiflich, aber hinterlistig. Der Verurteilte ward sofort verhaftet; als man auch dies noch miterlebt hatte, zerstreute man sich, unter Bemerkungen, die ihm nicht günstig waren. Nun war es wohl aus mit Lauer, denn was sollte in dem halben Jahr, das er absitzen mußte, aus seinem Geschäft werden! Infolge des Urteils war er auch nicht mehr Stadtverordneter. Er konnte künftig weder nützen noch schaden! Dem Buckschen Klüngel, der so dick tat, war der Denkzettel zu gönnen. Man sah sich nach der Frau des Sträflings um; aber sie war verschwunden. »Nicht einmal die Hand hat sie ihm gegeben! Nette Verhältnisse!«
Aber in den Tagen, die folgten, geschahen Dinge, die zu noch herberen Urteilen nötigten. Judith Lauer hatte sofort ihre Koffer gepackt und war nach dem Süden gereist. Nach dem Süden! — indes ihr leiblicher Mann dort oben in der Vogtei saß, mit einer Wache unter seinem Gitterfenster. Und — ein auffallendes Zusammentreffen! — Landgerichtsrat Fritzsche nahm plötzlich Urlaub. Eine Karte von ihm aus Genua gelangte an Doktor Heuteufel, der sie umherzeigte: wahrscheinlich, um sein eigenes Benehmen in Vergessenheit zu bringen. Es wäre kaum noch nötig gewesen, die Lauerschen Dienstboten und die armen verlassenen Kinder auszuforschen: man wußte Bescheid! Der Skandal war so groß, daß die »Netziger Zeitung« eingriff, mit einer an die oberen Zehntausend gerichteten Warnung, nicht den umstürzlerischen Tendenzen durch Zügellosigkeit entgegenzukommen. In einem zweiten Artikel legte Nothgroschen dar, daß man unrecht tue, Reformen, wie die in Lauers Betrieb eingeführten, besonders zu rühmen. Denn was hatten die Arbeiter von der Beteiligung? Im Durchschnitt, nach Lauers eigenen Aufstellungen, noch nicht achtzig Mark im Jahr. Das konnte man ihnen auch in Form eines Weihnachtsgeschenkes zuwenden! Aber freilich, dann war es keine Demonstration mehr gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Dann hatte auch die vom Gericht festgestellte antimonarchische Gesinnung des Fabrikherrn nichts dabei zu gewinnen! Und wenn Herr Lauer auf den Dank
Weitere Kostenlose Bücher