Der untröstliche Witwer von Montparnasse
stellte den Kleiderkoffer auf dem Bürgersteig ab, steckte langsam die Hände in seine Taschen und sah zu Boden.
»Dieser Typ«, sagte er langsam, »der Typ mit der Schere, der Frauenmörder, ist das Püppchen der alten Marthe. Wenn du mir nicht glaubst, komm mit. Komm mit. Er hat sich unter ihrem Federbett verkrochen.«
»Dem dicken roten?«
»Wovon redest du?«
»Von dem Federbett.«
»Scheißegal, Marc. Wichtig ist allein, daß er dort wohnt. Man könnte meinen, du verstehst absichtlich nichts!« fügte Louis hinzu, wobei er erneut lauter wurde.
»Ich verstehe nicht, warum dieser Typ die Puppe von Marthe sein soll, verdammt«, bemerkte Marc barsch.
»Wie spät ist es?«
Louis hatte nie eine Uhr bei sich, ihm reichte sein Zeitgefühl.
»Zehn vor eins.«
»Wir kommen dann zwar zu spät, aber begleite mich ins Café, ich erklär dir, warum Marthe ein Püppchen hat. Ich weiß es selbst erst seit letzter Nacht. Und ich schwör dir, daß es bei der Sache nichts zu lachen gibt.«
8
Louis und Marc liefen schweigend bis zur Bastille. Von Zeit zu Zeit nahm Marc den Koffer, weil Louis wegen seines kaputten Knies, das er sich bei einem Brand verletzt hatte, leicht hinkte und bei dieser Hitze und mit dem Koffer ermüdete. Marc hätte liebend gern die Metro genommen, aber Louis schien sich nie daran zu erinnern, daß es sowas in der Stadt gab. Er ging gerne zu Fuß, allenfalls nahm er mal den Bus, und da er ein Mann war, der ziemlich nervig sein konnte, wenn man ihm widersprach, ließ Marc ihn machen.
Gegen zwei Uhr blieb Louis vor der Tür von Marthes kleiner Wohnung in einer kurzen Sackgasse unweit der Bastille stehen. Er sah Marc mit angespanntem Gesicht, sehr grünen und sehr starren Augen an. Er schien ziemlich beunruhigend und setzte, wie Marthe das nannte, sein deutsches Gesicht auf. Marc selbst nannte es das Gesicht eines Goten von der unteren Donau.
»Zögerst du?« fragte Marc.
»Ich glaube, wir machen eine Dummheit«, sagte Louis leise, während er sich an die Tür lehnte. »Wir hätten den Bullen Bescheid geben sollen.«
»Das können wir nicht«, flüsterte Marc zurück.
»Warum?«
»Wegen des Püppchens«, antwortete Marc noch immer flüsternd. »Du hast das vorhin im Café sehr richtig erklärt. Für die Bullen ist es der Mörder, aber für Marthe ist es ihr Junge.«
»Und für uns ist es beschissen.«
»Richtig. Klingel jetzt, wir werden hier nicht Stunden vor der Tür stehenbleiben und schwitzen.«
Marthe öffnete vorsichtig und starrte Louis mit demselben starrköpfigen Gesichtsausdruck an wie am Tag zuvor. Zum ersten Mal in ihrem Leben vertraute sie Louis nur halb.
»Du brauchst nicht dein deutsches Gesicht aufzusetzen«, sagte sie mit einem Schulterzucken. »Du siehst doch, daß er mich nicht gefressen hat. Komm rein.«
Sie ging vor ihnen her in den kleinen Raum und setzte sich neben einem mageren Jungen auf das Bett, der den Kopf gesenkt hielt und dessen Hand sie tätschelte.
»Das ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe«, sagte sie leise zu ihm. »Er ist mit einem Freund gekommen.«
Der Mann warf ihm einen trüben Blick zu, und Louis bekam einen Schreck. Alles oder fast alles an diesem Gesicht war unangenehm: die lange Form, die weichen Umrisse, die hohe Stirn, die weiße, leicht marmorierte Haut, die dünnen Lippen. Selbst die Ohren, deren Ränder nicht eingerollt waren, waren unschön anzusehen. Die Augen verbesserten den Gesamteindruck ein klein wenig, sie waren groß, schwarz, aber vollkommen ausdruckslos, das Haar war blond, kräftig und gelockt. Louis sah fasziniert, wie Marthe ohne Hemmungen den Kopf dieses eher abstoßenden Typen streichelte.
»Das ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe«, wiederholte Marthe mechanisch, während sie fortfuhr, ihm den Kopf zu streicheln.
Clement richtete eine Art stummen Gruß an ihn. Dann dasselbe noch einmal an Marc.
Und Louis sah, daß dieser Mann wie ein Trottel wirkte.
»Da sind wir ja bedient«, murmelte er und legte den Koffer auf einen Stuhl.
Marthe ging zu ihm. Während sie die kurze Strecke zwischen ihnen und dem Bett überwand, sah sie mehrfach kurz zurück, als ob dieses Sich-Entfernen ihren Schützling in Gefahr bringen würde.
»Was mußt du ihn nur so anstieren?« fragte sie mit leiser und wütender Stimme. »Er ist doch kein wildes Tier.«
»Er ist aber auch kein Engel«, knurrte Louis zwischen den Zähnen.
»Ich habe dir nie gesagt, daß er ein schönes Kind wäre. Das ist kein Grund, ihn so
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