Der untröstliche Witwer von Montparnasse
noch immer den Arm erhoben hatte, »der ›Andere‹. Der Mörder. Es gibt ihn.«
»Dein Arm funktioniert nicht«, stellte Louis fest.
»Ich weiß«, erwiderte Marc und ließ ihn auf seinen Oberschenkel fallen. »Ich schaff's nie, den Kellner zu rufen.«
»Mangel an natürlicher Autorität«, vermutete Louis, der seinerseits den Arm hob.
Sofort erschien ein Kellner, bei dem er zwei Bier bestellte. Er wandte sich wieder Marc zu.
»Mir völlig egal«, sagte Marc. »Das beeindruckt mich nicht. Wir waren gerade dabei, daß es den Typen gibt.«
»Sehr wahrscheinlich. Wir können nicht sicher sein. Wenn es ihn gibt, wissen wir ein paar Dinge über ihn: Er kennt Clement Vauquer, er haßt ihn, und er ist kein Serienmörder.«
»Das verstehe ich immer noch nicht.«
Louis verzog das Gesicht und trank einen Schluck.
»Die Erklärung liegt darin, daß der Typ zählt. Er zählt. Die erste Frau, die zweite Frau, die dritte Frau ... Erinnerst du dich, was Vauquer gesagt hat? Der Typ am Telefon hat so geredet ... ›das erste Mädchen‹ ... ›das zweite Mädchen‹ ... Er zählt sie. Und wenn du zählst, dann weißt du, wo du ankommen willst, du erwartest eine bestimmte Gesamtmenge. Sonst brauchst du nicht zu zählen. Es gibt eine Grenze, ein Ziel. Ein Typ, der ein allgemeines Massaker anfängt, macht sich nicht die Mühe zu zählen. Man zählt nicht ins Unendliche, wozu auch? Ich glaube, daß dieser Mörder sich eine genaue Anzahl von Frauen vorgegeben hat, die er ermorden wird, und daß seine Liste ein Ende hat. Er ist kein Serienmörder. Er ist der Mörder einer Serie. Kapierst du den Unterschied. Der Mörder einer abgeschlossenen Serie.«
»Ja«, sagte Marc wenig überzeugt. »Du mißt Lappalien zuviel Bedeutung bei.«
»Zahlen sind nie Lappalien. Außerdem kommt noch hinzu, daß ein Serienmörder keinen Sündenbock angeheuert hätte. Der Typ, der das gemacht hat, rechnete damit, Vauquer für eine begrenzte Zahl von Opfern zu benutzen. Vauquer ist der Prügelknabe für eine Operation, die einen festen Rahmen hat, nicht für eine endlose Metzelei. Wenn jemand hinter ihm steht, so ist er höchst gefährlich und absolut Herr seines Systems. Er hat seinen Sündenbock ausgesucht, und er hat die Frauen ausgesucht. Nicht zufällig, ganz gewiß nicht zufällig. Seine Serie muß einen Sinn haben, damit sie ihren Zweck erfüllt. In seinen Augen, natürlich.«
»Was für einen Sinn?«
»Einen symbolischen Sinn, einen repräsentativen Sinn. Zum Beispiel sieben Frauen zu ermorden, um alle Frauen der Welt zu ermorden. Verstehst du, auch wenn nicht irgendwelche beliebigen Frauen genommen werden können. Sie müssen ein Ensemble bilden, eine Bedeutung, ein Universum.«
Louis trommelte mit den Fingern gegen sein Bierglas.
»Ich glaube, daß es nach diesem System funktioniert«, fuhr er fort, »und wenn du genauer darüber nachdenkst, wirst du sehen, daß es sogar ein sehr einfaches und banales System ist. Paß auf jeden Fall auf: Wir müssen Clement Vauquer unbedingt einsperren, vor allem, wenn er unschuldig ist. Wenn der dritte Mord geschieht, wissen wir dann zumindest, daß dieser Kretin nicht verantwortlich dafür ist. Das ist dann wenigstens was Solides.«
»Befürchtest du wirklich einen dritten Mord?«
»Ja, mein Alter. Der ›Andere‹ hat erst angefangen. Das Problem ist, daß wir weder die Länge noch die Richtung seiner Serie kennen.«
Louis ging zu Fuß nach Hause und erzählte seiner Kröte dabei Geschichten.
14
Am nächsten Vormittag begab sich Kehlweiler bereits um elf zum Kommissariat des 9. Arrondissements. Auf dem Weg hatte er die Morgenzeitungen gekauft und zum Himmel gebetet, daß die »Evangelisten«, wie Vandoosler sie nannte, gut aufgepaßt hatten: Das Phantombild des mutmaßlichen Mörders blickte von allen Titelseiten und war von erschreckender Ähnlichkeit.
Sorgenvoll und mit etwas schwerfälligen Schritten betrat Louis das Kommissariat. Dieses Mal wurde er gebeten zu warten. Loisel schätzte es offenbar nicht, daß er so schnell auf den Fall zurückkam. Louis Kehlweiler hatte, was Ermittlungen anging, den zweifelhaften Ruf eines Maulwurfs, der entschlossen ist, die Gesamtheit aller vor ihm liegenden Tunnel zu erforschen. Wegen der unliebsamen Nebenergebnisse, die eine zu intensive Schnüffelei zeitigen konnte, hatte man es nicht allzu gern, wenn er sich in einen Fall zu verbeißen begann, ohne daß man ihn darum gebeten hätte. Loisel bedauerte vielleicht bereits seine etwas zu spontane
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