Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Maurice und ich selbst haben ihn den ›Schnitter‹ genannt.«
»Wer ist Maurice?«
»Na, der andere Junge, der sich um die Gewächshäuser gekümmert hat.«
»Ein Kumpel?«
»Ja doch.«
»Was hat der Schnitter gemacht?«
»Das hier«, sagte Clement, entwand sich Louis' Händen und stand auf. Dann ahmte er mit der rechten Hand die Schnittbewegung einer Gartenschere nach, indem er die Finger streckte und wieder beugte, während er seine Geste mit kurzen, wiederholten Geräuschen begleitete. »Tschik, tschik.«
»Er hat die Pflanzen mit der Gartenschere geschnitten«, sagte Louis.
»Ja«, erwiderte Clement und umkreiste den Tisch, »er ging ständig mit dieser scharfen Schere umher, die schneidet. Tschik, Tschik. Er hat nichts anderes gemocht im Leben. Tschik, Tschik. Wenn er bei den Pflanzen nichts zu schneiden hatte, dann hat er ins Leere geschnitten, er hat die Luft geschnitten. Tschik.«
Clement hielt mit ausgestreckter Hand inne, kniff seine ausdruckslosen Augen zu und sah Louis an.
»Maurice und ich selbst haben Baumstämme gefunden, die viele Einschnitte in der Rinde hatten, von dieser Schere. Die Bäume haben so gelitten. Tschik. Tschik. Tschik. Er hat viele Bäume kaputtgemacht. Er hat sogar junge Apfelbäume umgebracht, weil er ihnen die Rinde kaputtgeschnitten hat.«
»Bist du sicher, was du da sagst?« fragte Louis und hielt Clement bei seinem Gang um den Tisch mit einer Hand auf.
»Es waren Schnitte von der Schere. Tschik. Und er hatte sie immer persönlich in seiner Hand. Aber ich habe keine Geleise gehabt, keine für die Bäume und keine für die Frau. Aber die Stimme, die er auf mich geschrien hat, war bestimmt seine selbst, ganz sicher.«
Louis dachte ein paar Momente nach, während er ebenfalls begann, um den Tisch herumzulaufen.
»Hast du ihn seitdem wiedergesehen?«
»Nicht persönlich.«
»Würdest du ihn wiedererkennen?«
»Na klar, ja.«
»Du sagst, daß du ihn an der Stimme erkannt hast. Und was war mit der Stimme am Telefon, in Nevers und in Paris? Könnte das seine gewesen sein?«
Clement hörte mit seinem Rundgang auf und drückte seinen Nasenflügel.
»Na? Du hast ein gutes Gehör, und du kennst seine Stimme. War er das am Telefon?«
»Das Telefon verändert alles«, sagte Clement abweisend. »Die Stimme ist nicht mehr in der Luft, die Stimme ist im Plastik. Man kann das gar nicht einmal sagen, wer es ist.«
»Könnte er es gewesen sein?«
»Ich kann es nicht sagen. Ich hab nicht einmal an ihn gedacht, als die Stimme im Telefon geredet hat. Ich habe an den Wirt von dem Restaurant gedacht.«
»Und du hast ihn neun Jahre nicht mehr gehört ... Weißt du den Namen von ... von dem ›Schnitter‹?«
»Hm, nein. Ich weiß nicht mehr.«
Louis seufzte entnervt. Abgesehen von dem Namen des Direktors und eines der Vergewaltiger war Clement kein einziger Name im Gedächtnis geblieben. Aber man durfte nicht ungerecht sein: Er war in der Lage gewesen, eine komplette und zusammenhängende Geschichte zu schildern, die immerhin schon einige Jahre zurücklag. Es würde viel Arbeit machen, sie vollständig zu rekonstruieren, vorausgesetzt, Clement hatte die Wahrheit gesagt, was Louis allerdings glaubte.
Er faltete seine Notizen säuberlich zusammen und steckte sie in die Tasche. Er versuchte sich vorzustellen, was eine Bestie empfinden mochte, die während einer Vergewaltigung von einem mächtigen, eiskalten Wasserstrahl getroffen wird. Schmerz, Erniedrigung, Wut. Durch Kaltwasserbehandlung gebrochene Männlichkeit - der Typ hatte nicht den geringsten Grund, dem anderen wohlzuwollen. In einem etwas primitiven Geist können Haß und Rachegefühle ziemlich lange schwelen. Louis war noch nie einem so albernen und zugleich so offensichtlichen Motiv begegnet.
Er wandte den Kopf und lächelte Clement an.
»Du kannst jetzt schlafen, wenn du magst.«
»Ich bin nicht müde«, sagte Clement wider Erwarten.
Als er gehen wollte, bemerkte Louis, daß niemand da war, um Clement zu beaufsichtigen. Solange man sich nicht sicher war, durfte man nicht das geringste Risiko eingehen, ihn abhauen zu lassen. Er überlegte, ob er schnell bis ins Dachgeschoß hochsteigen sollte, um nachzusehen, ob Vandoosler der Ältere da sei, aber er wagte es nicht, Clement auch nur für drei Minuten allein zu lassen. Sein Blick fiel auf den Besenstiel, der an der Wand lehnte, seitdem Lucien Marc gerufen hatte. Er zögerte. Dieses Ding zu benutzen schien ihm irgendwie gefährlich, als könne er sich anstecken, als
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