Der untröstliche Witwer von Montparnasse
riskiere er damit, einen Teil seiner mentalen Unversehrtheit zu verlieren. Aber in dieser Baracke hatte man ja kaum die Wahl.
Louis packte den Besenstiel und schlug viermal an die Decke. Dann lauschte er aufmerksam und hörte das Schlagen einer Tür. Der alte Bulle kam herunter. Mochte man sagen, was man wollte: das System funktionierte tadellos.
Louis stoppte Vandoosler auf dem Treppenabsatz.
»Kann ich dir die Überwachung von Clement anvertrauen, bis die anderen zurückkommen?«
»Natürlich. Hast du was rausgekriegt?«
»Es könnte sein. Sag Marc, daß ich morgen kurz nach Nevers fahre. Ich ruf ihn heute abend an. Kann man euch immer noch über das Café an der Ecke erreichen?«
»Ja, bis elf Uhr abends.«
Louis sah nach, ob er auch die Nummer bei sich hatte, und gab dem alten Bullen die Hand.
»Bis bald. Paßt gut auf ihn auf.«
18
Louis war um sieben Uhr aufgestanden, ungewöhnlich früh für seine Verhältnisse, und als sein Wagen sich Nevers näherte, war es halb elf. Ein schönes Licht lag über der Landschaft, es war ein lauer Morgen, und mit einer gewissen Freude hatte er das Straßenschild passiert, das das Departement Nievre anzeigte. Vor Jahren hatte er eine ganze Reihe Dienstreisen in diese Region gemacht, und er sah die Loire mit einem Vergnügen wieder, das ihn selbst erstaunte. Er hatte diese flirrende Klarheit vergessen, in der die Inseln im Fluß zu schweben schienen, und die Schwärme von Vögeln, die über der Wasseroberfläche flogen, aber es war ihm alles sofort wieder gegenwärtig. Die Loire führte wenig Wasser und zeigte ihre Sandbänke. Selbst in ihrer sommerlichen Demut war sie noch gefährlich, wie er wußte. Jedes Jahr ertranken Schwimmer im Glauben, sie mit einigen Dutzend Schwimmstößen bezwingen zu können, in ihren Strudeln.
Louis fuhr langsam, wie es seine Art war, und ließ den Fluß zu seiner Rechten; er dachte an den Vergewaltiger, der am Tag nach dem Verbrechen hier ertrunken war. Es war ohne weiteres möglich, sich in der Loire umzubringen, selbst bei niedrigem Wasserstand. Aber genausogut war es möglich, jemanden darin zu ertränken. Clement hatte die offizielle Version vom Tod der jungen Frau und ihres Peinigers nicht in Zweifel gezogen - wenn er denn überhaupt dazu in der Lage gewesen wäre. Aber sie war vielleicht nicht die einzige Art und Weise, die Dinge darzustellen. Louis hatte Marc am Vorabend die ganze grauenhafte Geschichte dieser kollektiven Vergewaltigung erzählt, und Marc war beeindruckt von der Figur des ›Schnitters‹. Um die Wahrheit zu sagen, Louis auch.
In Nevers irrte er etwas orientierungslos herum, bevor er den Weg zum Kommissariat wiederfand. Er ließ seinen Wagen in der Nähe des Zentrums stehen, machte eine Pause in einem Café, trinken und pinkeln, und band sich eine Krawatte um, die er vor der Glasfront der Bar richtete, bevor er die Bullen aufsuchte. Kehlweiler war stolz darauf, nach fünfundzwanzig Jahren Schnüffeleien aller Art in jeder Stadt einen Bullen zu seinen Bekannten zu zählen, genau wie ein Seemann stolz darauf ist, in jedem Hafen ein Mädchen zu haben. In Wirklichkeit gab es Ausnahmen von dieser Regel, vor allem seit seiner vorzeitigen Pensionierung. Er konnte sich über Versetzungen, Weggänge und Veränderungen nicht mehr auf dem laufenden halten, die Verläßlichkeit seines System war brüchig geworden. Aber noch hielt es, wenn auch mehr schlecht als recht. Er holte eine Karteikarte aus seiner Tasche, auf die er am Vorabend die Liste der Bullen von Nevers übertragen hatte. Er kannte zwar den Kommissar nicht, aber er hatte mit dem inzwischen zum Hauptmann beförderten Inspektor Jacques Pouchet einst in einer heiklen Hehlereiangelegenheit zusammengearbeitet. Louis drehte die Karte um. Damals war er nicht gerade sehr ausführlich in seinen Kommentaren gewesen, er hatte lediglich notiert: Jacques Pouchet, Inspektor, Nevers: gemäßigte Rechte - gute Ergebnisse als Bulle - mag mich, fürchtet mich, hat mir keine Steine in den Weg gelegt - schuldet mir ein Bier wegen einer Wette, was die Färbung der nivernesischen Hühner angeht. Eine offene Wette, das konnte nützlich sein, das sieht nach einem aus, der sich erinnert, das sieht nach Kumpel aus, sehr wirkungsvoll.
Louis steckte die Karte wieder ein und fragte sich, was er angesichts der Tatsache, daß er nicht das geringste über die nivernesischen Hühner wußte, sich damals bloß ausgedacht haben mochte. Er überquerte die Straße in Richtung
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