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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Schläfen und hinter den Ohren glatt. Die Ohren waren zu groß, aber das konnte niemand ändern.
    Er klingelte, und Merlin sprach persönlich in die Gegensprechanlage. Er mußte eine Zeitlang in das Gerät hineinverhandeln, aber Louis war ein Mann mit großer Überzeugungskraft, und Merlin willigte schließlich ein, ihn zu empfangen.
    Als Louis eintrat, war Merlin dabei, schlecht gelaunt Akten zu ordnen.
    »Es ist mir unangenehm, Sie zu stören«, sagte Louis sehr liebenswürdig, »aber ich konnte mir nicht erlauben zu warten. Meine Angelegenheit ist ziemlich dringlich.«
    »Sie sagten, es handele sich um mein ehemaliges Institut?« fragte der Mann, der sich erhob, um seinem Besucher die Hand zu geben.
    Starr vor Verblüffung stellte Louis fest, daß Paul Merlin in erstaunlichem Maße seiner Kröte Bufo ähnelte, was ihm den Mann sofort sympathisch machte. Im Gegensatz zu Bufo trug Merlin jedoch Kleidung - konventionell und gepflegt - und gab sich nicht mit einer Stiftablage zufrieden. Das Büro war groß und luxuriös eingerichtet, Louis bedauerte seine Bemühungen um korrekte Kleidung nicht. Allerdings war der Mann genau wie Bufo höchst unelegant gewachsen. Er ging gebeugt und hatte einen nach vorne hängenden Kopf. Wie Bufo hatte auch er eine matte und gräuliche Haut, weiche Lippen, aufgedunsene Wangen, schwere Lider und vor allem jenen typischen müden Ausdruck der Amphibien: losgelöst von den Nichtigkeiten dieser Welt.
    »Ja«, erwiderte Louis. »Das Drama der Nacht vom 9. Mai, die Vergewaltigung jener jungen Frau ...«
    Merlin hob eine schwere Pfote.
    »Dieses Desaster, wollen Sie sagen .... Wissen Sie, daß das Institut damit ruiniert war? Ein Haus, das seit 1864 existiert hat ...«
    »Ich weiß. Der Polizeihauptmann von Nevers hat mich darüber informiert.«
    »Mit wem arbeiten Sie?« fragte Merlin und sah ihn mit schweren Augen an.
    »Ich komme vom Ministerium«, antwortete Louis und streckte ihm eine seiner alten Visitenkarten hin.
    »Ich höre«, sagte Merlin.
    Louis suchte nach Worten. Aus dem kleinen Hof stieg der eindringliche Lärm einer Schleifmaschine oder einer Stichsäge hoch, was auch Merlin zu verstimmen schien.
    »Außer dem jungen Rousselet waren zwei andere Männer an der Vergewaltigung beteiligt. Ich suche sie. Vor allem Jean Thevenin, den ehemaligen Gärtner.«
    Merlin hob seinen dicken Kopf.
    »Den ›Schnitter‹?« fragte er. »Leider hat man nie beweisen können, daß er dabei war ...«
    »Leider?«
    »Ich mochte den Mann nicht.«
    »Clement Vauquer, der Gärtnergehilfe, war überzeugt davon, daß der ›Schnitter‹ einer der Vergewaltiger war.«
    »Vauquer ...«, sagte Merlin seufzend. »Aber wer sollte auf Vauquer hören? Er war, wie soll ich sagen ... nicht einfältig, nein, aber ... beschränkt. Sehr beschränkt. Aber sagen Sie mir ... hat Vauquer Ihnen das selbst erzählt? Haben Sie ihn gesehen?«
    Die ernste Stimme von Merlin war mißtrauisch und schleppend geworden. Louis spannte sich.
    »Nie gesehen«, sagte Louis. »All das ist schriftlich im Polizeiarchiv von Nevers niedergelegt.«
    »Und ... was interessiert Sie an dieser unglücklichen Geschichte? Das ist doch schon ziemlich lange vorbei.«
    Dieselbe mißtrauische Stimme und dieselbe Spannung. Louis entschloß sich, einen Zug schneller vorzurücken als geplant.
    »Ich suche den Scherenmörder.«
    »Aha«, sagte Merlin einfach, indem er seinen weichen Mund öffnete.
    Dann erhob er sich, ohne weiter etwas zu sagen, ging zu seinem ordentlich aufgeräumten Regal und kam mit einem leinenen Aktendeckel zurück, dessen Riemen er in aller Ruhe öffnete. Er zog das Phantombild von Vauquer heraus und legte es vor Louis hin.
    »Ich habe geglaubt, der wäre der Mörder«, sagte er.
    Es blieb einen Moment still, während die beiden Männer sich beobachteten. Es ist nie sicher, ob der Raubvogel gegen die Amphibie gewinnt. Die Kröte versteht es ausgezeichnet, ihr dickes Hinterteil wieder in ihr Versteck zurückzuziehen und den Milan dann verwundert und ohne Beute zurückzulassen.
    »Haben Sie ihn wiedererkannt? Vauquer?« fragte Louis.
    »Natürlich«, erwiderte Merlin und zuckte mit den Achseln. »Ich habe fünf Jahre mit ihm verbracht.«
    »Und Sie haben den Bullen nicht Bescheid gegeben?«
    »Nein.«
    »Warum?«
    »Es gibt immer genug Leute, die sich danach drängen, so etwas zu tun. Mir ist lieber, jemand anderes zeigt ihn an.«
    »Warum?« wiederholte Louis.
    Merlin bewegte seine weichen Lippen.
    »Ich mochte den Jungen«, sagte

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