Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Wicht erwürgen können, auf daß er an seinen Hirngespinsten eines lächerlichen Wissenschaftlers erstickte. Nerval! Ein Gedicht! Die Kiefer fest zusammengepreßt ging Louis etwa fünfzehn Meter die Rue Chasle entlang bis zu der kleinen Mauer, wo sich Vandoosler der Ältere gern hinsetzte, wenn die Sonne schien. Er ließ sich nieder und wartete in der lauen Nacht auf die mögliche Rückkehr von Clement. Er sah auf die Uhr. Wenn Clement die Frist seines »Ausgangs«, den ihm dieser finstere Schwachkopf gewährt hatte, einhalten würde, dann wäre er in einer Viertelstunde zurück.
Louis zählte jede einzelne Minute dieser Viertelstunde. In der kurzen Zeit wurde ihm klar, wie wichtig die Hoffnung war, die er der alten Marthe gemacht hatte, wie sehr er wünschte, ihren Jungen vor den Bullen zu schützen und ihn ihr endgültig frei zurückzugeben. Die Hände fest auf die Oberschenkel gepreßt, überwachte Louis die beiden Seiten der kleinen Straße. Und genau fünfzehn Minuten später sah er, wie unauffällig und verstohlen die Silhouette des fügsamen Jungen auftauchte. Louis drückte sich in den Schatten. Als der junge Mann an ihm vorbeiging, fing sein Herz an zu klopfen, fast, als sei er verliebt. Niemand war ihm gefolgt. Louis sah zu, wie er in die Baracke ging und die Tür hinter sich schloß. Unversehrt.
Gepackt von plötzlicher Erleichterung, vergrub er das Gesicht in den Händen.
23
Gegen halb drei morgens ließ sich Louis erschöpft auf sein Bett fallen und beschloß, daß er am nächsten Tag nicht aufstehen würde. Außerdem war Sonntag.
Um zehn vor zwölf schlug er die Augen wieder auf und war dem Leben nun gewogener. Er streckte seinen rechten Arm aus, schaltete das Radio an, um die neuesten Nachrichten aus aller Welt zu hören, und stand schwerfällig auf.
Als er unter der Dusche stand, hörte er plötzlich ein Wort, das ihn aufschrecken ließ. Er drehte das Wasser ab und spitzte, noch tropfend, die Ohren.
... muß spät am Abend erfolgt sein. Es handelt sich um eine dreiundreißigjährige Frau ...
Louis stürzte aus dem Bad und blieb wie erstarrt neben seinem Radio stehen.
... nach Ansicht der Ermittler wurde Paule Bourgeay von ihrem Mörder überrascht, als sie sich allein in ihrer Wohnung in der Rue de l'Etoile im 17. Pariser Arrondissement aufhielt. Das Opfer, das heute morgen um acht Uhr gefunden wurde, hat dem Mörder zwischen dreiundzwanzig Uhr dreißig und ein Uhr dreißig morgens ganz offenbar selbst die Tür geöffnet. Die junge Frau wurde erwürgt, dann an mehreren Stellen auf den Oberkörper geschlagen. Die Verletzungen sollen denen der Opfer gleichen, die im vergangenen Monat in Paris am Square d'Aquitaine und in der Rue de la Tourdes-Dames ermordet wurden. Noch immer suchen die Ermittler den Mann, dessen Phantombild am Donnerstag von den Zeitungen veröffentlicht wurde und der in der Lage sein könnte, der Polizei entscheidende Informationen zu liefern, was die Morde ...
Louis drehte leiser und ließ die Nachrichten weiterlaufen. Er ging mehrere Minuten in seinem Zimmer im Kreis, die Faust an die Lippen gepreßt. Dann trocknete er sich ab, griff nach seinen Sachen und begann sich mechanisch anzuziehen.
Verdammt. Eine dritte Frau. Louis rechnete rasch. Sie war zwischen halb zwölf und halb zwei gestorben ... Den ›Schnitter‹ hatten sie gegen Viertel vor zwölf auf dem Friedhof verlassen. Er hatte also genug Zeit gehabt. Und Clement - Louis verzog das Gesicht - war dank Luciens Gunst, ihm kleine Flügel zu verleihen, zwei Stunden weggewesen und um Viertel vor zwei zurückgekehrt. Er hatte leicht hin- und wieder zurückkommen können.
Louis runzelte die Stirn. Wo war das passiert? Er erstarrte, das Hemd in der Hand. Rue de l'Étoile ... Hatten sie eben wirklich »Rue de l'Etoile« gesagt, oder fing er an, wegen dieser Hirngespinste von Lucien abzudrehen?
Louis stellte das Radio wieder lauter und suchte einen Nachrichtensender. Dann hörte er die Nachricht noch einmal.
... erneut eine junge Frau in ihrer Wohnung in der Rue de l'Etoile in Paris verstümmelt. Das Opfer wurde gegen acht Uhr von einer ...
Louis machte das Radio aus und blieb mit nacktem Oberkörper reglos ein paar Minuten auf dem Bett sitzen. Dann zog er mit langsamen Bewegungen sein Hemd an, machte sich fertig und griff nach dem Telefonhörer. Als was hatte er Lucien gestern abend beschimpft? Als armen Irren, jämmerlichen Wicht, Scheißintellektuellen und Ähnliches dieser Art. Die
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