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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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aus.
    Nein. Nein ... es sei denn ... Es sei denn, das Gedicht hätte sich den Mörder gesucht, und nicht umgekehrt. Und da änderte sich plötzlich alles. Louis erhob sich und ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab. Er schrieb den Satz auf das mit Achten übersäte Blatt und unterstrich ihn zweimal. Das Gedicht müßte sich den Mörder gesucht haben. In dem Fall wäre es möglich. Alles andere waren Hirngespinste, aber das allein war möglich. Das Gedicht sucht sich den Mörder aus, überrascht ihn, stellt sich ihm in den Weg, der Mörder glaubt, darin das Schicksal zu erkennen, dem er folgen muß. Und er führt es aus.
    »Ach, Scheiße!« sagte Louis laut.
    Er drehte durch. Seit wann überfallen Gedichte ihre Opfer? Louis warf seinen Stift auf den Tisch. Da klingelte Lucien.
    Die beiden Männer nickten sich kurz zu, und Louis räumte einen Stapel Zeitungen von einem Stuhl. Er sah Lucien an, der mit frischem Gesicht und forschendem Blick vor ihm stand und nicht im geringsten aggressiv oder auch nur verärgert schien.
    »Du wolltest mich sehen?« fragte Lucien und warf seine Haarsträhne nach hinten. »Hast du das gehört? Rue de l'Étoile. Voll ins Schwarze. Na ja, der Typ hatte keine andere Wahl. Er hat auf dem Weg angefangen, nun muß er sich auch daran halten. Ein System schränkt immer ein. Wie bei der Armee, es kann keine Abweichung geben.«
    Wenn Lucien die Sache so sah und sich nicht einmal mehr an die Auseinandersetzung vom Vorabend zu erinnern schien, dann brauchte man ihm ja nur zu folgen. Louis entspannte sich.
    »Wie sind deine Überlegungen?« fragte er.
    »Ich hab's dir gestern abend gesagt. Es ist der einzige Schlüssel, der das Kästchen öffnet. Ich rede von dem Kästchen des Mörders, von dem kleinen, geschlossenen System eines Verrückten.«
    »Wie bist du darauf gekommen, daß es sich um das geschlossene System eines Verrückten handelt?«
    »Hast du das nicht Marc erklärt? Daß es sich um eine begrenzte Zahl von Opfern handelt und nicht um eine unbestimmte Menge?«
    »Doch. Magst du einen Kaffee?«
    »Gern. Und wenn es eine begrenzte Zahl gibt, wenn es ein System gibt, dann gibt es auch einen Schlüssel.«
    »Ja«, sagte Louis.
    »Und dieser Schlüssel ist das Gedicht. Das war klar wie Kloßbrühe.«
    Louis schenkte den Kaffee ein, setzte sich dann wieder auf seinen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und streckte die Beine aus.
    »Nichts weiter?«
    »Nichts weiter.«
    Louis schien ein bißchen enttäuscht. Er tauchte ein Stück Zucker in seinen Kaffee und aß es.
    »Und du denkst, daß der Mörder ein Nerval-Kenner ist?« fragte er skeptisch.
    »Das ist zuviel gesagt. Jeder auch nur halbwegs kultivierte Mensch käme da in Frage. Das Gedicht ist total bekannt. Da ist zehnmal mehr Tinte drüber verspritzt worden als über die Geschichte des Ersten Weltkrieges, glaub mir.«
    »Nein«, sagte Louis und schüttelte eigensinnig den Kopf. »An einer Stelle irrst du dich. Niemand würde sich ein Gedicht aussuchen, um Leichen daran aufzuhängen, denn das ergibt keinen richtigen Sinn. Unser Typ ist kein Ästhet auf der schiefen Bahn, er ist ein Mörder. Ob er kultiviert oder ungebildet ist, ändert an der Sache nichts. Er hätte kein Gedicht ausgesucht. Dieses Kästchen ist nicht stabil genug für das, was er damit anstellt.«
    »Das hast du mir gestern abend bereits sehr höflich erklärt«, sagte Lucien kurz und rümpfte die Nase. »Trotzdem ist Nerval der Schlüssel zu dem Kästchen, so absurd das auch erscheinen mag.«
    »Aber das ist es ja gerade, der Schlüssel ist nicht absurd genug. Es ist ein viel zu hübscher, viel zu vollkommener Schlüssel. Er klingt hohl.«
    Lucien streckte seinerseits die Beine aus und schloß halb die Augen.
    »Ich verstehe, was du sagen willst«, sagte er nach ein paar Augenblicken. »Der Schlüssel ist sehr hübsch, hinterlistig und ein bißchen zu überzeugend.«
    »Das ist intellektueller Quark, Lucien.«
    »Vielleicht. Das Ärgerliche daran ist nur, daß dieser falsche Schlüssel uns die richtigen Morde erschließt.«
    »Dann ist es ein grauenhafter Zufall. Diesen ganzen Kram mit dem Gedicht muß man vergessen.«
    Lucien sprang mit einem Satz auf.
    »Bloß nicht«, sagte er plötzlich erregt und lief im Zimmer umher. »Ganz im Gegenteil, man muß mit den Bullen darüber reden und verlangen, daß die nächste Straße überwacht wird. Und es liegt ganz in deinem Interesse, für diese Überwachung zu sorgen, Louis, denn wenn eine vierte Frau ermordet wird, dann

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