Der untröstliche Witwer von Montparnasse
sie ist wahr.«
Lucien verließ den Tisch und setzte sich mit seinem Bier auf den kleinen dreibeinigen Schemel vor dem Kamin. Er sah Louis nicht mehr an.
»Der erste Mord geschah am Square d'Aquitaine im 19. Arrondissement», sagte er. »Der zweite hat in der Rue de la Tourdes-Dames im 9., am anderen Ende von Paris stattgefunden. Der dritte Mord wird - wenn man ihn nicht verhindern kann - in der Rue de l'Etoile im 17. geschehen.«
Louis Blick flackerte. Er verstand nicht.
»Oder vielleicht in der Rue Berger«, fuhr Lucien fort. »Aber ich neige eher zur Rue de l'Etoile. Eine ganz kleine Straße. Wenn die Bullen saubere Arbeit leisten wollten, dann würden sie bei allen alleinstehenden jungen Frauen klingeln, die in dieser Straße wohnen, um sie zu warnen, damit sie niemandem öffnen. Aber«, fügte er hinzu, während er die ungläubigen Gesichter von Louis und Marc ansah, »ich befürchte, daß die Bullen mir nicht folgen werden.«
»Du bist vollkommen übergeschnappt«, knurrte Louis zwischen seinen Zähnen.
»›D'Aquitaine‹ ...? ›La Tour‹ ...? Fällt euch nichts auf?« fragte Lucien und sah sie erstaunt an. »›D'Aquitaine‹ ... ›La Tour‹ ... Marc? Meine Güte! Sagt dir das denn gar nichts?«
»Doch«, meinte Marc zögernd.
»Aha!« erwiderte Lucien hoffnungsfroh. »Was sagt dir das?«
»Ein Gedicht.«
»Und was für eins?«
»Von Nerval.«
Lucien erhob sich rasch und nahm ein Buch von der Anrichte. Er schlug eine gekennzeichnete Seite auf.
»Da«, sagte er. »Ich les es euch vor:
Ich bin der Finstre, der Beraubte, der Untröstliche, Der Fürst von Aquitanien, dessen Turm in Trümmer sank: Mein Stern, mein einziger ist tot, - und das Sternbild meiner Laute - Zeigt die schwarze Sonne der Melancholie.« ( Je suis le Tenebreux, - le Veuf, - l'Inconsole, Le prince d'Aquitaine á la Tour abolie: Ma seule Etoile est morte, et mon luth constelle Porte le Soleil noir de la Melancolie.
Gerard de Nerval, El Desdichado, übers, v. Friedhelm Kemp, in: Erzählungen und Gedichte, München (Winkler) 1989.)
Lucien legte das Buch zurück; ihm stand leichter Schweiß auf der Stirn, und er hatte rote Wangen, wie immer, wenn er erregt war. Marc zögerte, aber sein Interesse war geweckt, denn wenn die Exaltiertheiten von Lucien bisweilen wahre Katastrophen darstellten, so konnten es mitunter auch schlicht geniale Einfalle sein.
»Der Mörder folgt dem Gedicht Zeile für Zeile!« erklärte Lucien weiter und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Dieses ›Aquitanien‹ und der ›Turm‹ können nicht zufällig beieinander sein. Unmöglich! Das folgt dem Gedicht, ganz eindeutig! Ein mythisches Gedicht, ein Liebesgedicht! Schwer zu deuten, und doch sind es die berühmtesten Verse des Jahrhunderts! Die berühmtesten! Die Basis einer Chimäre, die Fundamente einer Welt! Die Wurzeln eines Phantasiegebildes, die Keime eines Wahns! Und der Weg des Verbrechens für den Verrückten, der sich ihrer bemächtigt!«
Völlig außer Atem, hielt Lucien inne, öffnete die Faust und trank einen Schluck Bier.
»Heute abend habe ich Clement getestet«, fuhr er fort und atmete geräuschvoll aus. »Ich habe ihm die Strophe vorgelesen. Ich kann euch garantieren, daß er sie zum ersten Mal in seinem Leben gehört hat. Clement ist nicht der Mörder. Aus diesem Grund habe ich ihn gehen lassen.«
»Armer Irrer«, sagte Louis und stand abrupt auf.
Bleich vor Wut ging er zur Tür und drehte sich zu Lucien um.
»Lucien«, sagte er mit zitternder Stimme, »lern eine Sache vom Leben außer deinem Scheiß-Krieg und deiner Scheiß-Lyrik, lerne eine Sache: Niemand mordet, um ein Gedicht zu illustrieren! Niemand ermordet Frauen, um Verse zu dekorieren, wie wenn man Christbaumkugeln auf eine Tanne stecken würde! Niemand! Niemand hat so etwas je getan, und niemand wird so etwas je tun! Und das ist keine Theorie, es ist die Wirklichkeit! So ist das Leben, und so sind die Morde! Die wirklichen Morde! Nicht die, die du dir in deinem empfindsamen Hirn ausdenkst! Und die, von denen im Moment geredet wird, sind wirkliche Morde, keine ästhetisierende Dekoration! Jetzt merk dir eines, Lucien Devernois: Wenn dein elendes Scheißintellektuellengeschwätz den kleinen Clement lebenslänglich in den Knast bringt, dann schwöre ich dir, daß ich dich zur Erinnerung jeden Abend um ein Uhr nachts ein Exemplar deines Buches fressen lasse.«
Und Louis schlug heftig die Türe zu.
Auf der Straße zwang er sich, ruhig zu atmen. Er hätte diesen armseligen
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