Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
wirst du das Buch bis zur Einbanddecke auffressen - und zwar ganz von allein, aus Schuldgefühlen, verstehst du?«
    »Welche nächste Straße?«
    »Hm! Der Punkt ist etwas heikel. Ich denke, daß der vierte Mord sich unweigerlich auf die schwarze Sonne in dem Gedicht konzentriert.«
    »Erklär mir das«, bat Louis in übertrieben düsterem Tonfall.
    »Ich wiederhole dir die Strophe: ›Ich bin der Finstre, der Beraubte, - der Untröstliche / Der Fürst von Aquitanien, dessen Turm in Trümmer sank.‹ Das ist Vergangenheit, darauf kommen wir nicht mehr zurück. Jetzt die dritte Zeile: ›Mein Stern, mein einziger ist tot‹ - das ist auch Vergangenheit, es geht weiter - ›und das Sternbild meiner Laute / Zeigt die Schwarze Sonne der Melancholie.‹ Es gibt keinen Straßennamen mit einer Laute, sei es mit Sternbild oder ohne, in Paris, das kannst du dir ja denken. Damit kommen wir zur ›Schwarzen Sonne‹, die im Text groß geschrieben ist; hier wird der Mörder das nächste Mal zuschlagen. Er ist gezwungen, über diesen Punkt zu gehen, er hat keine Wahl.«
    »Und die Schlußfolgerung?« fragte Louis schleppend.
    »Eine mehrdeutige und unsichere Schlußfolgerung«, erwiderte Lucien bedauernd. »Es gibt keine Rue du Soleil noir.«
    »Also ein Geschäft? Ein Restaurant? Oder eine Buchhandlung?«
    »Nein, es muß eine Straße sein. Wenn der Mörder anfängt, hinsichtlich seiner Logik Kompromisse einzugehen, dann hat sein Sinn keinen Sinn mehr. Das kann er sich nicht erlauben. Er hat mit Straßennamen angefangen, jetzt muß er bis zum Ende damit weitermachen.«
    »Was das angeht, kann ich dir folgen.«
    »Eine Straße also. Es gibt aber keine x Lösungen: Es gibt die Rue du Soleil, die Rue du Soleil d'or und schließlich noch die Rue de la Lune, ein mögliches Symbol für ein schwarzes Gestirn.«
    Louis verzog das Gesicht.
    »Ich weiß«, bemerkte Lucien, »das ist nicht sehr befriedigend, aber etwas anderes gibt es nicht. Ich neige zur Rue de la Lune, aber es ist unerläßlich, die Zugänge zu allen drei Straßen zu überwachen. Das kann man nicht dem Zufall überlassen.«
    Lucien suchte Louis' Blick.
    »Du machst das, nicht wahr?«
    »Das hängt nicht von mir ab.«
    »Aber du redest mit den Bullen darüber?« fragte Lucien hartnäckig.
    »Ja, ich rede mit ihnen darüber«, sagte Louis kurz. »Aber es würde mich sehr wundern, wenn sie sich darauf einließen.«
    »Du wirst ihnen dabei helfen.«
    »Nein.«
    »Ist dir die Schwarze Sonne egal?«
    »Ich glaube nicht dran.«
    Lucien sah ihn an und nickte leicht mit dem Kopf.
    »Ist dir klar, daß eine Frau in Gefahr ist?«
    »Das weiß ich besser als jeder andere.«
    »Aber du fühlst es weniger als ich«, gab Lucien zurück. »Hilf mir. Ich kann die drei Straßen nicht allein überwachen.«
    »Die Bullen werden dir helfen, wenn sie dazu Lust haben.«
    »Erzählst du ihnen die Geschichte auch ernsthaft? Ohne sie lächerlich zu machen?«
    »Das verspreche ich dir. Ich lasse sie ihre Schlußfolgerungen ziehen, ohne einen Kommentar dazu abzugeben.«
    Lucien warf ihm einen mißtrauischen Blick zu und ging zur Tür.
    »Wann gehst du hin?«
    »Jetzt.«
    »Übrigens, wärst du in der Lage, ihnen den Titel des Gedichts zu sagen?«
    »Nein.«
    »El Desdichado. Das bedeutet ›Der Enterbte‹.«
    »Sehr gut. Verlaß dich auf mich.«
    Die Klinke in der Hand, wandte Lucien sich noch mal um.
    »In der ersten Fassung hatte das Gedicht einen anderen Titel. Vielleicht würde dich der interessieren?«
    Louis zuckte höflich mit den Achseln.
    »Das Schicksal«, sagte Lucien und betonte deutlich beide Silben.
    Dann schlug er die Tür zu. Louis blieb einige Minuten in Gedanken versunken stehen; er kam sich vor wie ein Ungläubiger, der sich Sorgen macht um einen Freund, der plötzlich zum Mystiker geworden ist.
    Dann fragte er sich, seit wann Lucien, den er immer nur in den Weltkrieg vertieft gesehen hatte, soviel über Gerard de Nerval wußte.
     

24
     
    Es war zwar Sonntag, aber da Loisel den neuen Mord am Hals hatte, war klar, daß er bis nachts in seinem Büro sein würde. Das gab Louis die Zeit, seine beiden Mörder aufzusuchen, den ›Schnitter‹ und den Trottel, die beiden Männer, die er hatte nachts herumlaufen lassen, und die er weiter herumlaufen lassen würde, wenn sich kein Ausweg finden ließe - alles wegen der alten Marthe. Louis verspürte leichte Übelkeit, wenn er an den dritten Mord dachte. Er kannte das Gesicht der Frau noch nicht und zögerte, es sich anzusehen. Er nahm

Weitere Kostenlose Bücher