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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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nächste Begegnung würde ja lustig werden.
    Wie auch immer, Lucien hatte es richtig gesehen. Louis schüttelte den Kopf, während er die Nummer des Âne rouge wählte. Trotzdem gab es da etwas, das überhaupt nicht paßte.
     
    Die Wirtin des Cafés rief Vandoosler den Älteren, der seine Karten hinlegte und Marc aus der Baracke holte, da die anderen nicht da waren. Fünf Minuten später hatte Louis ihn am Apparat.
    »Marc? Ich bin's. Antworte mir kurz und knapp, wie immer. Hast du das gehört? Mit der dritten Frau?«
    »Ja«, antwortete Marc mit ernster Stimme.
    »Ich weiß, daß Clement gestern abend zurückgekommen ist. Was macht er für einen Eindruck auf dich? Durcheinander?«
    »Normal.«
    »Weiß er von dem dritten Mord?«
    »Ja.«
    »Was hat er dazu gesagt?«
    »Nichts.«
    »Und ... Lucien? Hast du ihn heute morgen gesehen?«
    »Nein, ich habe geschlafen. Aber er kommt gleich zum Mittagessen nach Hause.«
    »Vielleicht hat er die Nachrichten noch nicht gehört.«
    »Doch. Er hat eine Nachricht auf den Tisch gelegt. Ich lese sie dir vor, ich hab sie mitgenommen: Neun Uhr dreißig - An alle Einheiten: Heute nacht Beginn eines feindlichen Angriffs aus Nordnordwest, voller Erfolg mangels Scharfsinn des Oberkommandos und daraus folgender schlechter Vorbereitung der Truppen. Weitere Angriffe in naher Zukunft zu erwarten. Gegenangriff sorgfältig vorzubereiten - Soldat Devernois. Reg dich nicht auf«, fügte Marc hinzu.
    »Nein«, sagte Louis. »Bitte, frage ihn, ob er einverstanden ist, nach dem Mittagessen bei mir vorbeizukommen.«
    »Bei dir zu Hause oder im Bunker?«
    »Im Bunker. Wenn er sich weigert, was ich befürchte, dann gib mir Bescheid.«
    Nachdenklich verließ Louis das Haus, um zu Mittag zu essen. Schon drei Opfer. Er war überzeugt, daß der Mörder sich eine begrenzte Zahl zum Ziel gesetzt hatte. Louis bestand auf dieser Vorstellung, weil der Mörder zählte und das Zählen notwendigerweise ein Ziel hatte und damit begrenzt war. Aber was für ein Ziel? Drei Frauen? Fünf? Zehn? Und wenn der Typ sich für eine Auswahl von fünf oder zehn entschieden hatte, dann hatte er ihr notwendigerweise auch eine Bedeutung gegeben. Sonst brauchte man keine Auswahl zu treffen.
    Louis blieb auf dem Bürgersteig stehen und dachte nach, das Gesicht gesenkt und auf seine Faust gestützt; er fuhr in seinen Gedankengängen fort und folgte deren kümmerlichem Fluß, der häufig ins Stocken kam.
    Es war ausgeschlossen, daß der Täter sich zehn Frauen rein nach dem Zufallsprinzip aussuchte, zehn Frauen einfach so, eine nach der anderen. Nein, die Gruppe als Ganzes mußte etwas bedeuten, ein Universum bilden, um ein Modell zu werden und alle Frauen in sich zu vereinen. Eine Bedeutung suchen.
    Zwischen den beiden ersten Opfern hatte man keinerlei Verbindung herstellen können, keinerlei sinnvollen Zusammenhang. Das Gedicht, das Lucien vorgeschlagen hatte, brachte natürlich eine perfekte Verbindung ins Spiel, eine Bedeutung, ein Universum, ein Schicksal, in das der Mörder seine Morde einfügen und das er genießen konnte. Aber gerade das konnte Louis nicht hinnehmen: daß der Mörder ein Gedicht wählen könnte, um seine Auswahl zu bestimmen. Nach einem Gedicht morden ... Nein. Das war wirklich zu schön, um wahr zu sein. Viel zu preziös, zu raffiniert, zu schick, das hatte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Nicht verrückt genug, nicht neurotisch genug. Was Louis suchte, war ein wahnsinniges und abergläubisches System. Aber ein Gedicht zu nehmen, um danach zu morden - das war intellektueller Quark, da war er sich sicher.
    Nachdenklich setzte er sich an seinen Schreibtisch und wartete auf Luciens eventuellen Besuch. Er glaubte nicht, daß er kommen würde. Um ehrlich zu sein, er selbst wäre nach einer solchen Beschimpfung nicht gekommen. In der Baracke schien man allerdings mit Beschimpfungen deutlich anders umzugehen als im Rest der Welt, und das ließ hoffen. Aber was für die drei Evangelisten untereinander galt, galt sicher nicht auch für ihn.
    Während er lauter Achten auf ein weißes Blatt malte, verfolgte Louis seine Gedankengänge weiter, klärte seine Theorie einer »rituellen Serie« des Mörders. Könnten die Verse von Nerval den entscheidenden Sinn bringen, den der Mörder seiner Serie zu geben schien? Nein, natürlich nicht. Das war grotesk. Hirngespinste. Gewiß, die Komplexität dieser Verse konnte jemanden, der von Zeichen und Bedeutungen besessen war, faszinieren. Aber nein, es reichte nicht

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