Der untröstliche Witwer von Montparnasse
originalgetreu?«
»Es gibt keinen Bildhauer, der originalgetreuer arbeitet als ich. Fragen Sie wen sie wollen in der Branche. Sogar die Ohren sind originalgetreu.«
Leider, dachte Marc.
»Hat sie da noch gelebt?«
»Nein«, sagte der Alte und zündete sich eine neue Zigarette an. »Ich habe die Statue nach ihrem Tod gemacht, nach Zeitungsfotos. Ich arbeite immer nach Fotos. Aber sie ist es, sie ist es wirklich. Paul hat sie nicht ertragen, so ähnlich ist sie. Als er sie gesehen hat, hat er geschrien wie ein Esel. Deswegen habe ich sie versteckt, er glaubt, ich habe sie weggeworfen.«
»Hat er sie bei Ihnen in Auftrag gegeben?«
»Paul? Machen Sie Witze?«
»Warum haben Sie sie dann gemacht?«
»Um sie in Ehren zu halten, damit sie weiterlebt.«
»Haben Sie sie geliebt?«
»Nicht mehr als andere. Ich liebe alle Frauen.«
»Sie hatte eine ziemlich große Nase«, sagte Louis und stellte die Statuette vorsichtig wieder auf den Boden.
»Ja«, sagte der Alte und nickte.
Louis sah sich um.
»Darf ich mich umschauen?« fragte er.
Clairmont nickte, und Louis ging langsam zwischen den Arbeitstischen und Regalen hindurch. Der Alte starrte Marc unverwandt an.
»Sie hatten mir nichts von Ihrem delikaten Spezialgebiet gesagt. Machen Sie das schon lange?«
»Seit ich vier bin«, erwiderte Marc. »Ich habe mich schon früh aufs Forschen verlegt.«
Clairmont warf seine Kippe in das Sägemehl.
»Vielleicht denken Sie, ich habe 'ne Fliege im Helm«, murmelte er und klopfte auf den Kopf von Nicole Verdot, die ergeben zu seinen Füßen stand. »Aber ich rate Ihnen, zunächst mal Ihr eigenes Material zu überprüfen.«
Gleichgültig pflichtete Marc ihm bei. Er hatte den Ausdruck »eine Fliege im Helm haben« noch nie gehört. Er vermutete, das sei die Entsprechung von »eine Macke« oder »einen Sparren haben«, nur etwas krasser ausgedrückt. Man hörte geradezu den panischen Lärm der Fliege und sah ihren verstörten Flug, und der Ausdruck gefiel ihm sehr. Wenigstens war er nicht völlig umsonst gekommen. Diese Neuerwerbung tröstete ihn darüber hinweg, daß er Mathias' Omelett verpaßt hatte. Natürlich hatte er eine Fliege im Helm, das war gar nicht zu leugnen, aber nicht so, wie der alte Clairmont glaubte. Clement hatte ebenfalls eine fette Fliege im Helm. Und Lucien mit seinen Schützengräben auch. Und der Deutsche mit seinen verdammten Verbrechen. Nur Marthe nicht. Marc betrachtete die Hand des Alten, die unaufhörlich die unvollendete Figur begrapschte. Clairmont hatte ebenfalls eine Fliege im Helm, und zwar von einer ziemlich weit verbreiteten Fliegengattung.
28
»Fünf Dinge«, sagte Marc zu Louis und streckte ihm die Finger einer Hand entgegen, während das Auto sich von dem Stadtpalais entfernte. »Erstens hätte ich da ein paar ernsthafte Bemerkungen zu dem Beruf zu machen, den du mir angehängt hast, ohne mich zu fragen.«
»Gut«, erwiderte Louis. »Hat er dir nicht gefallen?«
»Er hat mir überhaupt nicht gefallen«, bekräftigte Marc. »Zweitens: Was haben die Bullen zum Thema Nerval gesagt? Und drittens: Kennst du den Ausdruck ›eine Fliege im Helm haben‹? Und viertens: Was hältst du von diesen abscheulichen Figuren? Fünftens ist es unabdingbar, daß ich irgendwo was trinken gehe. Die beiden Typen da, die Kröte und ihr Schwiegervater, haben mich geschafft.«
»Wer paßt heute abend auf Clement auf?«
»Ich bin dran. Der Pate vertritt mich, bis ich wieder zurück bin.«
»Wir dürfen uns keinen Schnitzer mehr erlauben. Die Bullen haben Vauquer identifiziert. Jetzt wissen sie, wer er ist und woher er kommt. Sie werden sein gesamtes Leben durchforsten, und wenn sie die Vergewaltigung im Institut und den Mord an der jungen Verdot entdecken, dann werden sie wild. Ich hoffe, daß Lucien begriffen hat, daß wir alle gemeinsam mit Clement im Knast gelandet wären, wenn sie ihn gestern geschnappt hätten.«
»Man weiß nie ganz genau, was Lucien mitkriegt. Es kann sein, daß er mitkriegt, daß an der Wand im Raum hinter der Küche eine Reißzwecke fehlt, und kurz darauf auf der Straße seinen eigenen Zwilling nicht erkennt.«
»Willst du damit sagen, daß es den Typ gleich zweifach gibt?« fragte Louis und stellte das Auto vor einem Café ab.
»O nein, ich glaube nicht. Lucien sagt selbst, daß er einzigartig ist, daß die Gußform zerstört worden ist.«
»Na, um so besser«, bemerkte Louis und stieg aus. »Das ist die einzige aufbauende Nachricht, die ich seit einer Woche
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