Der untröstliche Witwer von Montparnasse
gewesen war oder nicht. Louis machte die Schreibtischlampe und den Computer an. Genau in dem Moment, als die Maschine mit dem Brummen der Startroutine fertig war, drängte sich eine der hölzernen Statuetten plötzlich vor alle andern und baute sich unübersehbar vor Louis' geistigem Auge auf. Regungslos und mit klopfendem Herzen betrachtete Louis, der sich nicht zu rühren wagte, dieses stumme Gesicht. Es war tatsächlich eine der Figuren von Clairmont, die er vor einigen Stunden in dessen Werkstatt in der Hand gehabt hatte. Er starrte sie einige Augenblicke an, bis er sicher war, ihr Gesicht nicht mehr zu vergessen. Erst dann erlaubte er sich, aufzustehen, und knipste langsam die anderen Lampen im Zimmer an. Dann lehnte er sich mit der Bierflasche, die er fest in der linken Hand hielt, an das Bücherregal und suchte. Er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, da war er sich sicher, und trotzdem war die Frau eine Unbekannte. Er war sich ziemlich sicher, daß er nie mit ihr geredet hatte, ihr nicht einmal nahe gekommen war, aber sie war ihm unzweifelhaft vertraut. Louis zwang sich, in der Wohnung umherzugehen, während er gegen ein inzwischen erdrückend gewordenes Schlafbedürfnis kämpfte. Aber er befürchtete ernsthaft, daß die Holzfrau am nächsten Morgen verblaßt sein würde, und wanderte ununterbrochen mit seiner Flasche um seinen Schreibtisch herum. Erst nach über einer Stunde kramte sein alarmiertes Gedächtnis die Bruchstücke seiner Erinnerung hervor und rekonstruierte plötzlich die wichtigsten Informationen. Louis sah auf die Uhr. Zehn nach vier. Lächelnd schaltete er den Computer aus und zog sich an. Die Frau war vor einigen Jahren gestorben, sie hieß Claire irgendwas, und sie hauste irgendwo in seinem Archiv. Sie war ermordet worden. Und wenn er sich nicht irrte, war sie das erste Opfer des Scherenmörders.
Er fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar, verließ die Wohnung und schloß leise die Tür hinter sich.
30
Louis stellte den Wagen unweit der Arenes de Lutece ab und eilte zu seinem Bunker. Die Nacht war warm und mondlos. Alles schlief, außer zwei Homosexuellen mit nacktem Oberkörper, die am Gitter des kleinen Parks lehnten und ihm beim Vorbeigehen einladend zunickten. Louis lehnte mit einer Handbewegung ab und fragte sich, was die Typen wohl denken würden, wenn sie wüßten, daß er gerade einer toten Frau hinterherlief.
Er ging behutsam die Treppe hinauf und öffnete langsam die drei Schlösser an der Tür zum Bunker. In der Nachbarwohnung schnarchte ein Alter mit empfindlichem Schlaf, und Louis hatte nicht die Absicht, ihn zu stören. Er stellte die Kaffeemaschine an und öffnete leise einen der Metallschränke. Er erinnerte sich nicht mehr an den Namen der ermordeten Frau, aber er erinnerte sich sehr genau an den Ort: Nevers.
Ein paar Minuten später stellte Louis eine Tasse Kaffee auf seinen Schreibtisch und legte eine schmale Akte daneben, aus der er Presseausschnitte und Fotos hervorzog. Er hatte sich nicht geirrt, es war ohne jeden Zweifel die Frau, die Pierre Clairmont aus Holz geschnitzt hatte. Ein offenes Lächeln, etwas hängende Lider, dichtes, lockiges Haar, das hinter den Ohren festgesteckt war. Claire Ottissier, Angestellte beim Gesundheitsamt der Stadt Nevers, sechsundzwanzig Jahre alt.
Louis trank ein paar Schlucke Kaffee. Dank sei den ekligen kleinen Teufeln, dachte er. Ihr drohendes Eingreifen hatte die Holzfrauen gezwungen, ihren Tanz abzukürzen und ihr drückendes Geheimnis ohne weitere Ausflüchte preiszugeben. Wenn die kleinen Teufel nicht gewesen wären, hätten die Frauen ihn vielleicht noch die ganze Nacht genervt, ohne ihm irgend etwas Wichtiges mitzuteilen.
Claire Ottissier war in ihrer Wohnung in Nevers gegen sieben Uhr abends ermordet worden, als sie gerade von der Arbeit kam. Acht Jahre war das jetzt her, rechnete Louis. Der Angreifer hatte sie niedergeschlagen, mit einem Strumpf erwürgt und dann ein dutzendmal mit einer kurzen Klinge auf sie eingestochen. Was für eine Waffe es war, hatte man nicht herausgefunden. Auf dem blutverschmierten Linoleum hatte man neben dem Kopf des Opfers kleine, rätselhafte Streifen entdeckt, als ob der Mörder ein Vergnügen darin gefunden hätte, seine Finger durch das Blut zu ziehen. Der ausführliche Bericht des Echo nivernais fügte noch hinzu, daß »die Ermittler sich mit den geheimnisvollen Spuren beschäftigen, die sicher in Kürze ihre düstere Botschaft enthüllen werden - woran wir nicht
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