Der untröstliche Witwer von Montparnasse
zweifeln.«
Louis schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein, nahm Zucker, rührte um. Natürlich hatten die Spuren nie auch nur das Geringste enthüllt.
Das also war der Grund, weshalb ihn dieser Teppich mit den verstrubbelten Fäden rechts vom Gesicht des zweiten Opfers irritiert hatte. Dieser Spur war er acht Jahre zuvor schon einmal begegnet. Und jetzt schien ihm außer Zweifel zu stehen, daß Claire die erste Frau gewesen war, die der Scherenmörder umgebracht hatte, lange bevor er sich auf die Frau vom Square d'Aquitaine stürzte. Was war seitdem geschehen? Hatte er anderswo gemordet, ohne daß man es erfahren hatte? Im Ausland? War die Frau vom Square d'Aquitaine in Wirklichkeit sein zwanzigstes Opfer?
Louis erhob sich und spülte nachdenklich seine Tasse aus. Er war jetzt ziemlich wach, und das Tageslicht begann durch die zugezogenen Vorhänge zu sickern. Er war sich noch nicht sicher, wie er sich Loisel gegenüber verhalten sollte. Es wäre entgegenkommend, ihn über dieses erste Verbrechen des Scherenmörders zu informieren. Aber Clairmont ohne Beweise anzuklagen würde Clements Sache nicht im geringsten weiterbringen und die ganze Entwicklung blockieren. Louis war noch immer versucht, Mördern die Zügel schießen zu lassen, eine hochriskante Methode, die Loisel gewiß nicht gefallen würde - und das war verständlich.
Unentschlossen ging er zum Schreibtisch zurück und sah die letzten Zeitungsausschnitte von damals durch. Ein langer Artikel in La Bourgogne erging sich ausführlich über das Leben des Opfers, ihre Ausbildung, Verdienste, ihren beruflichen Ehrgeiz, ihre Aussicht auf baldige Heirat. Es folgte ein Kasten, der mit »Er verfolgte den Mörder und setzte das eigene Leben aufs Spiel« überschrieben war. Louis zuckte zusammen. An diese Episode erinnerte er sich überhaupt nicht mehr. Jean-Michel Bonnot, ein Patissier und Nachbar von Claire, hatte, aufgeschreckt durch den Lärm, den er bei seiner ruhigen Nachbarin hörte, zunächst an ihrer Tür geklopft und dann leise die kleine Wohnung betreten. Dort hatte er den Mörder überrascht, der noch neben der jungen Frau am Boden kniete. Der Mörder - oder die Mörderin, wie der Artikel präzisierte - hatte ihn brutal zu Boden geschlagen und war dann durch das dunkle Treppenhaus geflohen. Der Nachbar war wieder auf die Beine gekommen und hatte die Verfolgung aufgenommen. Aber bis er seine Frau alarmiert hatte, damit jemand dem Opfer zur Hilfe kam, hatte der Mörder einen gehörigen Vorsprung. Bonnot war ihm entlang den Loirequais gefolgt und hatte ihn schließlich in den Gassen verloren. Unter dem Schock des tragischen Ereignisses hatte Bonnot leider nur eine sehr grobe Beschreibung der Person liefern können, die sich hinter einem Schal, einer Wollmütze und einem dicken Mantel versteckt hatte. »Dennoch glauben die Ermittler, den Mörder, der der mutigen Verfolgungsjagd des Patissiers so knapp entgangen ist, sicher finden zu können.«
Zwei andere Zeitungen zeigten das Foto des Konditors, ohne Genaueres über seine Zeugenaussage zu berichten. In der darauffolgenden Woche informierten ein paar Zeilen die Leser darüber, daß die Ermittlungen andauerten. Danach kam nichts mehr. Auf einem Zettel, der an den letzten Artikel geheftet war, hatte Louis »ergebnislos abgeschlossen« und das Datum gekritzelt.
Louis ließ sich auf seinen Stuhl fallen und schloß die Augen. Man hatte den Mörder - oder die Mörderin? also nie gefaßt, aber es hatte ihn jemand gesehen. Der Konditor hatte ihn zwar nicht beschreiben können, hatte aber zumindest gesehen, wie er sich bewegte und rannte. Das war ein unschätzbares Detail.
Er mußte diesen Mann dringend sprechen. Das Kinn auf die Hände gestützt, betrachtete er lange das Gesicht von Claire Otissier. Dann schlief er unerwartet im Sitzen ein.
31
Am Vormittag stellte Louis leicht benommen sein Auto an der Ecke zur Rue Chasle in den Schatten. Es war halb elf, und die Sonne brannte bereits ordentlich. Diesmal hatte Louis eine alte Sprühflasche mitgenommen, um Bufo von Zeit zu Zeit zu befeuchten. Er griff nach der Akte über die Frau aus Nevers, stopfte die Kröte in seine Jackettasche und durchquerte das kleine Stück Garten, das Marc mittelalterlich »die Brache« nannte - nicht ohne Grund. Er klopfte mehrmals an die Tür der Bruchbude, ohne Antwort zu erhalten. Er ging zum Tor zurück und pfiff. Der Kopf von Vandoosler dem Älteren erschien an einem Oberlicht im Schieferdach.
»He! Deutscher!« rief
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