Der untröstliche Witwer von Montparnasse
wie den jungen Rousselet, und kaum ein Jahr später ermordet er die kleine Claire. Er kriegt Angst, flieht irgendwo in die fernsten Fernen, sagen wir Australien, und niemand hört mehr von seinen Verbrechen.«
»Stimmt«, sagte Marc. »Man hört nicht häufig von Australien, wenn man sich's recht überlegt.«
»Dann kommt er wieder zurück«, fuhr Louis fort. »Mit demselben Trieb. Natürlich will er kein Risiko eingehen. Gewissenhaft bereitet er eine Fluchtmöglichkeit vor. Und er sucht den jungen Dreckskerl, der ihm mitten in der Vergewaltigung mit eiskaltem Wasser den Hintern geduscht hat.«
»Ich hab das gemacht«, sagte Clement und hob plötzlich den Kopf.
»Ja«, sagte Louis sanft. »Reg dich nicht auf, ich weiß es noch. Er sucht ihn und findet ihn noch fast an derselben Stelle, wo er ihn verlassen hatte, in der schönen alten Stadt Nevers. Er schleppt ihn mit nach Paris und hängt ihm die Sache an.«
»Ich verstehe, warum du die Nacht nicht geschlafen hast«, bemerkte Marc. »Aber im Grunde bringt uns das nicht weiter. Wir haben jetzt ein Verbrechen mehr, stimmt, aber wir wußten doch schon, daß die Fliege von dem Typen keine Neuentwicklung war.«
»Hör doch bitte mal mit dieser Fliege auf.«
»Und es sagt uns, daß der alte Clairmont ermordete Frauen in Holz schnitzt, was nicht gerade unwichtig ist. Aber es gibt uns keinen ausreichend soliden Beweis in die Hand, um Clement aus seiner schwierigen Lage zu befreien. Der Alte könnte seine Kreativität genausogut mit Fotos aus den Zeitungen angeregt haben. Vielleicht hat er nur die Fotos angerührt, nicht die Frauen.«
»Ach, übrigens«, sagte Louis plötzlich, »hattet ihr gestern Besuch hier?«
»Nichts Schlimmes, eine Freundin von Lucien. Wir haben Clement in den Keller gebracht. Sie hat nichts gesehen und nichts gehört, sei ganz beruhigt.«
Louis machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Versuch doch Lucien begreiflich zu machen, daß jetzt nicht der Moment ist, hier in der Baracke gesellschaftliche Verabredungen zu treffen«, sagte er brüsk.
»Schon passiert.«
»Dieser Typ wird uns noch alle reinreiten.«
»Denk an was anderes«, sagte Marc unwirsch.
Louis setzte sich auf der anderen Seite des Tisches neben Clement und dachte ein paar Minuten schweigend nach, das Kinn auf seine Fäuste gestützt.
»Die Frau von Nevers bringt uns drei Felder weiter«, sagte er. »Mit ihrer Hilfe pressen wir den alten Bildhauer enger in den Schraubstock - allerdings ohne irgendeine Gewißheit, da geb ich dir recht. Trotzdem steckt er drin. Mit ihrer Hilfe sehen wir auch, daß die lyrische Interpretation von Lucien uns definitiv nicht weiterbringt. Die Scherenmorde haben lange vor dem Mord am Square d'Aquitaine begonnen, wahrscheinlich mit dem Mord an der kleinen Claire in Nevers, und sie sind vielleicht acht Jahre lang weitergegangen, sagen wir in Australien.«
»Sagen wir.«
»Das Gedicht müßte also vor dem ersten Vers noch weitere Verse haben, und das ist nicht möglich.«
»Nein.« Marc stimmte zu. »Aber du hast gesagt, daß der Mörder seine Opfer zählt. Warum hat er dann Clement gegenüber von der ›ersten‹ und der ›zweiten‹ Frau gesprochen?
Louis verzog das Gesicht.
»Es ist anzunehmen, daß es die ›ersten Frauen‹ waren, die Clement beobachten sollte, aber nicht die ersten in seiner Serie.«
»Also wäre die Serie nicht unbedingt ›abgeschlossen‹?«
»Ich weiß es nicht, Marc, verdammt noch mal! Auf jeden Fall weiß ich, daß wir El Desdichado und seine schwarze Sonne vergessen können. Der Schlüssel zu dem Kästchen liegt woanders. Schließlich noch der dritte Punkt: Durch den früheren Mord in Nevers haben wir die Chance, herauszufinden, ob der Mörder einem unserer Verdächtigen ähnlich sah. Oder zumindest herauszufinden, ob es sich um Clairmont oder den ›Schnitter‹ handeln kann.«
»Tschik«, sagte Clement.
»Oder um das Püppchen von du weißt schon wem«, fügte Louis leise hinzu. »Oder um einen gänzlich Unbekannten. Denn nach dem Mord an Claire Ottissier wäre der Mörder beinahe von einem Nachbarn geschnappt worden, der ihm eine ganze Zeitlang auf den Fersen war. Der ›mutige Patissier‹. Du kannst den Artikel lesen.«
Marc pfiff durch die Zähne.
»Ja«, sagte Louis. »Nach dem Mittagessen fahre ich nach Nevers. Komm mit, wenn es irgendwie möglich ist. Überlaß Clement deinem Paten und Mathias, das geht jetzt sehr gut, wo sie Steine zusammenkleben.«
»Und mein Putzjob? Was ist damit?«
»Sag ab. Es
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