Der untröstliche Witwer von Montparnasse
tot.
Gegen drei hatte Merlin die Morde an Claire Ottissier, Nadia Jolivet, Simone Lecourt und Paule Bourgeay zugegeben. Louis erläuterte, daß Merlin den Todeskampf von Nicole Verdot offenbar genossen hatte als auslösendes Element für den Mechanismus von Lust und Gewalt, was Vandoosler der Ältere mit den Worten zusammenfaßte, der Typ habe Geschmack dran gefunden und sich dann nicht mehr zurückhalten können. Die Seufzer der Heiligen und die Schreie der Fee ... Das Gedicht war ihm eines Morgens nach einer schlaflosen Nacht dreimal in der Metro begegnet. Es hatte ihm den Weg gezeigt.
Gegen halb fünf übermittelte Louis Einzelheiten der ebenso einfachen wie brillanten Methode, mit der Paul Merlin zu seinen Opfern kam. Dank seiner Stellung als hoher Beamter der Finanzkasse Vaugirard suchte er sich in den Datenbanken die gewünschten Straßen und ermittelte dort die kinderlosen alleinstehenden Frauen unter vierzig.
Merlin hatte nach dem Mord an Julie Lacaize noch zwei andere Morde geplant: einen in der Rue de la Reine-Blanche und einen anderen, den letzten, in der Rue de la Victoire. Marc runzelte die Stirn, holte den Stadtplan, der noch auf der Anrichte in der Küche lag, und setzte sich wieder auf sein altes Brett. Rue de la Reine-Blanche ... Rot noch glüht meine Stirne vom Kuß der Königin ... Eine perfekte Wahl, die Reine blanche, die weiße Königin, die unbefleckte Reinheit, das war ganz klar. Natürlich nur für die Fliege, die monströse Fliege mit ihren Augen aus tausend Facetten. Und zum Abschluß dann die Rue de la Victoire. Und zweimal siegreich überschritt ich den Acheron ... Eine perfekte Überlegung der Fliege. Marc besah sich den Plan des 9. Arrondissements. Von der Rue de la Victoire war es nur ein Katzensprung bis zur Rue de la Tourdes-Dames, die wiederum die Rue Blanche kreuzte, und all das zweihundert Meter von der Tour d'Auvergne entfernt, die wiederum die Rue des Martyrs kreuzte. Und so weiter. Marc legte den Plan ins Gras. Eine grauenerregende Schnitzeljagd, wo alles am Ende einen Sinn ergab und sich bis zum Rausch ineinanderfügte. Die unfehlbare Logik der Fliege, und Paris ging am Ende dabei drauf.
Fünf Uhr. Marc wechselte den Sender. Auch das Schicksal von Clement Vauquer war sorgfältig geplant worden. Nach den ersten drei Morden wäre er in einem Winkel des Stadtpalais' versteckt worden; nach dem Mord in der Rue de la Victoire hätte Merlin ihn Selbstmord verüben lassen. Aber der Trottel war ihm entwischt, auch die Dummen haben einen Gott. Merlin hatte mit verschärftem Risiko weitermachen müssen. Nach Vollendung der Mordserie, unter Befolgung aller Regeln und versehen mit den Segnungen des heiligenden Glückswurfs, hätte er die Waffen gestreckt und im Genuß seiner Erinnerungen weitergelebt.
Louis, Loisel und der Psychiater, der beim Verhör anwesend war, waren alle der Ansicht, daß der Mann nie hätte aufhören können.
»Eine einzige Fliege kann Paris zu Staub werden lassen«, sagte Marc zu Lucien, der mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt war.
Lucien nickte. Er hatte seine Schere wieder hervorgeholt und zerschnitt ein Bund Kräuter. Marc setzte sich und sah ihm schweigend zu.
»Diese Frau, Julie Lacaize ...«, begann Marc nach einigen Minuten. »Die war ganz reizend zu mir. Aber angesichts der Tatsache, daß ich ihr das Leben gerettet habe, ist das fast normal.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Offengestanden hatte ich nicht den Eindruck, daß mich das weit bringen könnte.«
»Lieber Freund«, sagte Lucien, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, »du kannst nicht gleichzeitig Intelligenz und Kühnheit an den Tag legen und dir außerdem noch das Mädchen unter den Nagel reißen.«
»Und warum nicht?«
»Weil das dann kein heroischer Akt mehr wäre, sondern ein Boulevardstück.«
»Ach so«, sagte Marc leise. »Wenn ich die Wahl hätte, wäre mir, glaube ich, das Boulevardstück lieber gewesen.«
43
Am späten Nachmittag verließ Louis benommen, aber erleichtert das Kommissariat. Er überließ es Loisel, die Geschichte zu Ende zu führen. Er seinerseits hatte noch was zu erledigen.
Der ›Schnitter‹ harkte die Wege auf der Nordseite des Friedhofs. Als er Louis kommen sah, blieb er unbeweglich stehen.
»Ich hab's mir doch gedacht, daß du wieder auftauchen würdest«, sagte Louis. »Hast du erfahren, daß man den Mörder gefaßt hat?«
Der ›Schnitter‹ zog den Rechen mehrfach nutzlos auf dem Kies hin und her.
»Du hast dir
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