Der Ursprung des Bösen
besondere Aufmerksamkeit hatte die Polizei den indirekten Indizien geschenkt – den Flügeln, dem Wachs und den Federn. Man hatte sich an Hersteller von Drachen und einschlägige Fachgeschäfte gewandt. Später hatte man sich mit Einbrüchen befasst, bei denen diese Sportgeräte gestohlen worden waren. Aber auch nachdem man die Suche von der Umgebung von Marseille auf ganz Frankreich ausgedehnt hatte, blieb sie ohne Erfolg. Bienenwachsproduzenten und ihre Kunden wurden befragt. Umsonst. Bei den Produzenten der von dem Mörder benutzten weißen Gänsefedern wurden Erkundigungen eingezogen; man rief nicht nur bei allen Züchtern an, sondern kontaktierte auch die Käufer – Hersteller von Bettwaren, Bekleidung und Möbeln – in ganz Frankreich, ohne eine Spur zu finden. Nicht ein einziger Kunde erwies sich als suspekt, und während der Monate vor dem Mord hatte es keine außergewöhnliche Bestellung gegeben.
Fast hätte man meinen können, dass der Täter die von ihm benutzten Utensilien selbst herstellte.
Dieser Umstand beruhigte Janusz. Es war so gut wie unmöglich, dass er selbst diese logistische Leistung vollbracht hatte – schon gar nicht, ohne es zu wissen.
»Wir sind jetzt in Cassis«, sagte der Kanalarbeiter. »Wie geht es weiter?«
»Fahr einfach immer geradeaus.«
Janusz schlug den letzten Schnellhefter auf. Sein Inhalt widmete sich ganz und gar dem Zeugen Christian Buisson, der in einschlägigen Kreisen »Fer-Blanc« genannt wurde.
Der Mann war ein alter Bekannter der Polizei. Doch die Behörden hatten auch nicht mehr Glück gehabt als Janusz und Shampoo. Trotz intensiver Suche im Milieu der Obdachlosen fehlte von dem Verrückten jede Spur. Man hatte sich nicht nur bei den Tippelbrüdern umgesehen, sondern auch das Personal der Unterkünfte und Tafeln und sämtliche Krankenhäuser befragt. Doch der Mann mit dem Stahl im Schädel blieb unauffindbar.
Etwas allerdings hatten die Ermittler erfahren, was Janusz bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Christian Buisson war schwer krank. Nachdem er sich vor Jahren eine Hepatitis C zugezogen hatte, wurde Fer-Blancs Leber jetzt vom Krebs zerfressen. Diese Information stammte von einem Arzt, der sich ehrenamtlich um die Obdachlosen kümmerte und für die Organisation »Straßenärzte« arbeitete, einem gewissen Éric Enoschsberg aus Nizza.
Der letzte Bericht ging von der Möglichkeit aus, dass Christian Buisson längst gestorben war – entweder in einem Krankenhaus oder irgendwo an einer Straßenecke unter einem Karton.
»Könntest du bitte an der nächsten Telefonzelle anhalten?«, bat Janusz seinen Begleiter.
S preche ich mit Doktor Enoschsberg?«
»Am Apparat.«
»Ich bin von der Kriminalpolizei Bordeaux.«
»Worum geht es?«
Janusz hatte sich eine Telefonkarte gekauft. Sein »Bodyguard« ging gelassen vor der Telefonzelle auf und ab. Janusz hatte ihm gedroht, sofort zu schießen, wenn er auch nur den geringsten Fluchtversuch mache.
»Ich möchte mit Ihnen über einen Ihrer Patienten sprechen. Es geht um Christian Buisson, der allgemein nur ›Fer-Blanc‹ genannt wird.«
»Ich habe doch schon im Dezember Ihren Kollegen Rede und Antwort gestanden.«
»Inzwischen gibt es aber neue Erkenntnisse. Der Mörder hat erneut zugeschlagen. Dieses Mal bei uns in Bordeaux.«
»Ja und?«
»Ich möchte mich zur Vervollständigung der Ermittlungen noch einmal mit Ihnen unterhalten.«
Sein Gesprächspartner schwieg.
»Sie haben zu Protokoll gegeben, dass Sie Christian Buisson im vergangenen Sommer behandelt haben.«
»Behandelt wäre vielleicht ein bisschen übertrieben. Er war in einem ausgesprochen schlechten Zustand.«
»Genau. Meine Kollegen haben ihn später nicht mehr auffinden können und daraus geschlossen, dass er unbekannt verstorben ist. Haben Sie ihn vielleicht nach dem Fall noch einmal wiedergesehen?«
»Ja, das habe ich.«
Janusz hielt den Atem an. Er hatte lediglich versuchsweise einen Köder ausgeworfen, doch der Arzt biss tatsächlich an!
»Und wann war das?«
»Anfang Januar anlässlich einer Konsultation. In Toulon.«
Wieder entstand eine Pause. Der Arzt schien zu zögern.
»Im Dezember wurde ich gebeten, die Polizei anzurufen, wenn ich etwas Neues erführe. Aber ich habe es nicht getan.«
»Warum?«
»Weil es Fer-Blanc sehr schlecht ging. Ich wollte nicht, dass Ihre Kollegen ihm noch weiter zusetzten.«
Janusz gab sich verständnisvoll.
»Ja, das begreife ich.«
»Nein, ich glaube nicht. Christian war nicht nur dem Tod sehr
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