Der Ursprung des Bösen
abgeschlossen hat. Weil sie die Akte eines wieder aufgenommenen Falls nicht in einem verschlossenen Schrank aufbewahrte. Sie können sich einen Grund aussuchen.«
Anaïs dachte kurz an die exzentrische Richterin, die sie während des Mittagessens kaum hatte zu Wort kommen lassen. Der armen Frau standen sicher ebenfalls unangenehme Zeiten bevor.
»Bitte, überlassen Sie mir die Akte«, bat sie erneut. »Und geben Sie mir eine Nacht Zeit.«
Crosnier lächelte. Er wirkte wie ein großer, müder, nicht übel aussehender Teddy.
»Der Typ, hinter dem Sie her sind, was will der eigentlich genau?«
»Er sucht den Schuldigen.«
»Ist er das nicht selbst?«
»Ich habe ihn von Anfang an für unschuldig gehalten.«
»Und seine Fingerabdrücke im Bahnhof von Bordeaux? Sein Betrug? Seine Flucht?«
»Das war eine Art Kettenreaktion.«
»Sie schwimmen wirklich gegen den Strom.«
»Geben Sie mir diese Nacht«, flehte sie. »Wenn Sie wollen, können Sie mich hier im Büro einschließen. Morgen früh weiß ich, wohin Freire unterwegs ist.«
»Freire?«
»Ich meine Janusz.«
Der Kommissar griff in seine Tasche, zog einen kleinen Block sowie eine Reihe von Fotokopien hervor und legte sie vor Anaïs auf den Tisch.
»Unter einer Treppe in der Nähe des Gerichtsgebäudes haben wir eine Reisetasche mit den persönlichen Habseligkeiten des Verdächtigen gefunden. Die Ausweispapiere lauten auf den Namen Freire. Und Sie haben recht: Er ermittelt auf eigene Faust.«
Er drehte die Fotokopien so, dass Anaïs sie lesen konnte.
»Das ist der Autopsiebericht von Tzevan Sokow. Ich habe keine Ahnung, wie er daran gekommen ist.«
Anaïs streckte die Hand nach dem Notizblock aus, doch Crosnier bedeckte ihn mit seiner haarigen Pranke.
»Sie bekommen von mir die komplette Akte Ikarus. Wenn Sie etwas Neues finden, erwarte ich, dass Sie es sofort an mich weitergeben. Und anschließend fahren Sie wieder nach Hause. Sie haben nichts mehr mit dem Fall zu tun, ist das klar? Sie können schon froh sein, dass ich die Sache mit unseren Jungs geregelt habe. Sie haben sie ja ganz schön in die Mangel genommen.«
Fast mechanisch wiederholte Anaïs:
»Morgen früh. Sie bekommen alle Informationen, und ich fahre nach Hause.«
Crosnier nahm seine Hand von dem Notizbuch und stand auf.
Keiner von beiden glaubte an Anaïs’ Versprechen.
J anusz stand am Fenster seines Zimmers und war enttäuscht.
Gegen 17.00 Uhr hatte er sich in der Nähe von Hyères von dem Kanalarbeiter verabschiedet und ein Taxi nach Nizza genommen. Der Fahrer, der aus der Stadt stammte, war gerade auf dem Heimweg und hatte sich bereit erklärt, Janusz für vierhundert Euro die hundertfünfzig Kilometer mitzunehmen, Sprit und Autobahngebühren inklusive.
Während der gesamten Fahrt hatte der Fahrer von nichts anderem als dem Karneval von Nizza geredet, der gerade an diesem Tag, dem 19. Februar, seinen Höhepunkt erreichte. Janusz würde schon sehen! Umzüge mit herrlich geschmückten Wagen, Blumenschlachten und eine Stadt, die sich sechzehn Tage lang nur Jubel, Trubel und Heiterkeit hingab.
Janusz, der kaum zuhörte, fragte sich, wie er diesen Umstand zu seinem Vorteil nutzen konnte. Er stellte sich ein allgemeines Durcheinander aus maskierten Menschen vor, Lärm, Farben, ein Riesenchaos bei Tag und Nacht, überforderte Polizisten – alles in allem Dinge, die ihm zugutekommen konnten.
Nach seiner Ankunft musste er allerdings feststellen, dass der Fahrer maßlos übertrieben hatte. Seine Schilderungen klangen nach dem Karneval von Rio, doch Janusz fand sich in einer Stadt wieder, deren kalte, leere Straßen Winterschlaf zu halten schienen. Er mietete sich in einem Mittelklassehotel am Boulevard Victor Hugo ein und blickte nun hinunter auf die unter Zypressen und Palmen friedlich daliegende Straße.
Nizza glich einer überdimensionalen Feriensiedlung. Die Gebäude wirkten wie zusammengewürfelte Strandhäuser aller möglichen Epochen und Stilrichtungen.
Angesichts der tristen Starre fielen Janusz weitere Dinge ein, die er über Nizza gelesen hatte und die zu dem passten, was er vor sich sah. Die Stadt war ein Rentnerparadies. Nirgends gab es mehr Überwachungskameras und Privatmilizen. Außer Meer und Sonne waren Ruhe und Ordnung im Preis inbegriffen. Für einen Flüchtling nicht gerade das ideale Pflaster …
Bei der Bruderschaft hatte er bereits angerufen. Der Anrufbeantworter verwies auf die Handynummer eines gewissen Jean-Michel. Janusz war an einen Mann geraten, dessen
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