Der Ursprung des Bösen
drängte. Am liebsten wäre er vom Wagen gestiegen und hätte sie in die Arme genommen, doch einer der Rattenmänner hatte seine Hand ergriffen und forderte ihn auf, eine kesse Sohle mit ihm auf das provisorische Parkett zu legen. Janusz ließ sich mitreißen und legte sogar noch ein Solo ein, während er auf dem Motivwagen seinem Schicksal als Geisteskranker entgegenrollte.
Von allen Möglichkeiten der Flucht hatte er mit dieser am allerwenigsten gerechnet.
Er war gerade zum Verrückten mutiert.
3. Narcisse
E in Tauende.
Ein Stück von einem Schwimmer aus Styropor.
Drei Fetzen Plastikmaterial.
Zwei Coladosen.
Eine Spiegelscherbe.
Eine Verpackung für Tiefkühlprodukte der Marke Confifrost.
Vier Stücke von Fischernetzen, jedes nur wenige Quadratzentimeter groß.
Treibholz.
»Was willst du eigentlich mit dem Zeug?«, fragte Crosnier aggressiv.
Anaïs antwortete nicht. Die Stücke stammten von dem Strand in Sormiou, wo Ikarus gestorben war. Sie waren von der Brandung in einem Umkreis von zwanzig Metern um die Leiche angeschwemmt worden. Am Morgen hatte sie darum gebeten, dass man ihr die Fundstücke zusammenpacken und versiegeln möge. Das Bündel war soeben eingetroffen.
»Der technische Service hat eine detaillierte Liste beigelegt«, fuhr Crosnier fort. »Die Sachen, die verrotten können, haben wir natürlich nicht dazugelegt. Eine ganze Menge ist ohnehin schon im Müll gelandet. Aber warum willst du den Krempel haben?«
»Um ihn von unserem Institut in Toulouse genau analysieren zu lassen.«
»Willst du damit sagen, dass wir unseren Job nicht gründlich genug gemacht haben?«
Anaïs strich sich die Haare aus dem Gesicht und lächelte.
»Ich kenne da jemanden. Vielleicht fällt ihm ja irgendetwas auf, ein Detail, worauf wir bisher nicht geachtet haben.«
»Du schaust zu oft CSI .«
Anaïs antwortete nicht, sondern blickte auf die vor ihr aufgereihten Bildschirme. Es war 18.00 Uhr. Sie saßen in der Zentrale der städtischen Überwachung von Nizza. Vor einigen Wochen hatte die Polizei im Stadtgebiet von Nizza mehr als sechshundert neuartige Kameras in Betrieb genommen. Auf dem Video stieg Janusz im Hospiz über die Balkonbrüstung, hangelte sich die Regenrinne hinunter, rollte über die Straße, wich einer Straßenbahn aus und verschwand in der Avenue de la République. Die Szene lief als Endlosschleife.
»So ein Arschloch«, murmelte Crosnier. »Der Mann ist ein Profi.«
»Nein. Er ist verzweifelt. Das ist nicht dasselbe.«
Wie zwei Regisseure einer Fernsehshow saßen Anaïs und Crosnier in bequemen Sesseln vor einer ganzen Wand aus 16:9-Bildschirmen. Manchmal kam es Anaïs tatsächlich so vor, als wäre alles nichts als eine gigantische Show. Sie hatten den gesamten Nachmittag in diesem Studio verbracht – ohne das geringste Resultat.
Weder Aufrufe im Radio noch Ortungsverfahren, weder die fast achtzig Patrouillen noch sechshundert mit Zoom versehene Kameras, die eine Rotation von dreihundertsechzig Grad boten, noch nicht einmal die Überprüfung von Autokennzeichen hatten etwas gegen Janusz ausrichten können. Er besaß nicht nur eine außergewöhnlich hohe Intelligenz, sondern auch einen ausgeprägten Willen und war obendrein mit einer Art unbewusstem, sechsten Sinn ausgestattet.
Zu Beginn der Verfolgungsjagd waren die Polizisten noch guten Mutes gewesen. Immerhin war Nizza die am besten überwachte Stadt Frankreichs. Aus Cannes, Toulon und dem Hinterland hatte man zudem Verstärkung angefordert. Fußstreifen, berittene Polizei und motorisierte Teams hatten sich auf die Suche gemacht. Jetzt aber hatte der Mut sie verlassen. Nach acht Stunden ununterbrochener Suche gab es nicht das kleinste Ergebnis.
Dieses Mal schluckte Anaïs alle Vorwürfe, ohne wütend zu werden. Sie fühlte sich nur noch unendlich müde. Freire war ihnen wieder einmal entkommen. Punktum.
»Was meinst du, was der Kerl jetzt macht?«, fragte Crosnier schließlich.
»Ich glaube, ich muss noch einmal mit Fer-Blanc sprechen.«
»Du spinnst.«
Anaïs trank ihren Kaffee, ohne darauf einzugehen. Nach dem Verhör am Morgen war der Krebskranke ins Koma gefallen und zum Sterben ins Krankenhaus gebracht worden. Die Büßerbrüder hatten Anzeige gegen die Polizei erstattet, weil die Beamten zu massiv vorgegangen seien, was bei dem ohnehin bereits geschwächten Patienten zur Katastrophe geführt habe.
Der bittere Geschmack des Kaffees passte zu dem Groll, den Anaïs verspürte. An diesem Tag war wirklich alles
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