Der Ursprung des Bösen
Farbe war in dicken Schichten auf die Leinwand aufgetragen, die kühnen Pinselspuren deutlich zu sehen. Bilder, die man nicht nur betrachten, sondern auch betasten kann , dachte Narcisse, der sich nicht im Geringsten daran erinnerte, diese Porträts gemalt zu haben. Hier stieß er mit seinen Nachforschungen an eine Grenze. Er wollte sich in Persönlichkeiten zurückverwandeln, die sich ihm entzogen. Er konnte sie nur äußerlich annehmen.
»Ende Oktober bist du schließlich verschwunden«, fuhr Corto fort. »Ohne eine Adresse zu hinterlassen. Mir war klar, dass deine psychische Odyssee wieder begonnen hatte.«
Jedes seiner Abbilder war mit Requisiten ausgestattet. Ein Ballon und eine Trompete für den Clown, ein Fahrrad und eine Umhängetasche für den Briefträger, ein Fernrohr und ein Sextant für den Admiral.
»Warum habe ich wohl all diese Selbstporträts gemalt?«, fragte Narcisse verwirrt.
»Ich habe dir diese Frage damals auch gestellt, und du hast geantwortet: ›Man darf sich nie auf das verlassen, was man sieht. Meine Malerei ist ein Repentir .‹«
Narcisse erbleichte. Das war das französische Wort für Reue. Seine Fingerabdrücke in der Reparaturgrube am Bahnhof Saint-Jean … seine Anwesenheit neben der Leiche von Tzevan Sokow … Plötzlich sah er sich als psychopathischen Mörder. Ein Mann wie der Held seiner Gemälde. Dominant. Gleichgültig. Sarkastisch. Ein Mann, der mit jedem neuen Opfer die Identität wechselte. Ein Maler, der seine Verbrechen in Blut ertränkte.
Und dann fiel ihm noch etwas ein. Konnte es sein, dass die Gemälde einen Hinweis auf seine Herkunft enthielten? Eine unterschwellige Botschaft, die er selbst hineingelegt hatte, ohne es zu wissen?
»Kann ich diese Gemälde irgendwo sehen? Ich meine in natura?«
»Wir besitzen sie leider nicht mehr. Ich habe sie einer Galerie überlassen.«
»Welcher Galerie?«
»Sie heißt Villon-Pernathy und befindet sich in Paris. Aber dort sind die Bilder auch nicht mehr.«
»Wieso?«
»Weil sie verkauft wurden. Wir haben letztes Jahr im November eine Ausstellung organisiert, die eingeschlagen hat wie eine Bombe.«
»Dann bin ich also jetzt reich?«
»Das kann man so sagen. Du besitzt ein nettes Sümmchen. Das Geld ist hier bei mir und gehört dir.«
»Bargeld?«
»Ja, es liegt im Safe. Du bekommst es, wann immer du willst.«
Mit einem Mal sah Narcisse die Möglichkeit, seine Nachforschungen wieder aufzunehmen. Das Geld kam wie gerufen, denn er hatte nicht einen Cent mehr in der Tasche.
»So bald wie möglich.«
»Willst du schon wieder weiter?«
Narcisse antwortete nicht. Corto nickte verständnisvoll. Seine milde Art reizte Narcisse bis zur Weißglut. Er war selbst Psychiater gewesen, und zwar mindestens zweimal im Leben – in Pierre-Janet und zweifellos davor auch schon einmal. Er wusste, dass es zu nichts führte, wenn man die Störung eines Patienten akzeptierte. Psychiatrie bedeutete, die Verwirrung zu verstehen, sie aber niemals gutzuheißen.
»Wer bist du heute?«, fragte Corto.
Wieder schwieg er. In dieser Klinik schien tatsächlich niemand auf dem Laufenden zu sein. Freire. Janusz. Sein Konterfei kursierte in sämtlichen Medien, und er wurde schwerwiegender Verbrechen verdächtigt. Dass die Patienten nichts davon mitkriegten, wunderte ihn nicht, aber was war mit Corto? Hatte er keinen Kontakt zur Außenwelt?
»Heute«, antwortete er schließlich geheimnisvoll, »bin ich derjenige, der russische Puppen öffnet. Ich verfolge jede meiner Persönlichkeiten, versuche sie zu verstehen und den Grund ihrer Existenz zu entschlüsseln.«
Corto erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
»Hast du Hunger?«
»Nein.«
»Dann komm mit. Ich zeige dir dein Zimmer.«
Sie traten in die Nacht hinaus. Es nieselte. Narcisse schlotterte vor Kälte. Immer noch trug er den schmutzigen Anzug, und der Schweiß der Verfolgungsjagd klebte an seiner Haut. Schon gut, dass er wenigstens das Rattenkostüm ausgezogen hatte.
Sie stiegen eine graue Steintreppe hinauf. In den terrassenförmig angelegten Gärten wuchsen Palmen, Kakteen und Sukkulenten. Narcisse sog die feuchte, heilsame Luft ein. Hier, in der Luft der Berge, konnte man nah an den Wolken von allen möglichen Krankheiten genesen.
Sie erreichten die Villa, die in L-Form erbaut war. Mit ihren Flachdächern, offenen Linien und schmucklosen Wänden stammte sie aus der Zeit vor etwa hundert Jahren, als man klare Linien,
Weitere Kostenlose Bücher