Der Ursprung des Bösen
wiederholt?«
»Es war Russisch.«
»Russisch?«
Der alte Mann wurstelte eine verkrümmte Hand unter der Decke hervor und bewegte sie im Takt der Musik.
»Hörst du? Das ist der Karneval.«
»Wie lautete das Wort?«
Fer-Blanc dirigierte immer noch mit seinem knochigen Zeigefinger.
»DAS WORT, FER-BLANC!«
»Der Mann sagte immer wieder: ›Matrjoschka‹.«
»Was heißt das?«
Fer-Blanc zwinkerte Janusz zu.
»Bist du gekommen, um mich umzubringen?«
Janusz packte ihn samt seiner Decke.
»Warum um Himmels willen sollte ich dich umbringen?«
»Weil du der Mann warst, der gebetet hat, Arschloch!«
Janusz ließ den Alten los und taumelte gegen die Balkonbrüstung. Die Musik wurde lauter. Schon übertönte sie den Verkehrslärm und ließ den Balkon erbeben.
Fer-Blanc richtete seinen Zeigefinger auf Janusz.
»Du hast den Engel getötet. Du hast ihn getötet und verbrannt. Du bist ein Dämon, ein Abgesandter Satans.«
Janusz wäre beinah hintenüber gekippt und klammerte sich ans Geländer. Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass etwas nicht stimmte. Ein Geräusch mischte sich in die Karnevalsmusik. Ein Geräusch, lauter als der Rhythmus des Umzugs und das Rauschen des Verkehrs.
Er blickte auf die Straße hinunter. Aus allen Richtungen rasten Polizeiautos heran. Blaulicht blinkte im Sonnenschein. Die Wagentüren öffneten sich und Uniformierte strömten heraus.
Wie erstarrt beobachtete Janusz, was da vor sich ging. Er nahm jedes Detail wahr wie im Traum. Die Sirenen, die roten Armbinden, die Waffen …
Die Menschenmenge wich auseinander.
Die Büßerbrüder gingen auf die Polizisten zu.
Plötzlich hoben alle gleichzeitig die Köpfe. Janusz blieb gerade noch genügend Zeit zurückzuweichen. Als er wieder nach unten blickte, sah er, wie Anaïs Chatelet ihre Dienstwaffe lud.
Ohne lange nachzudenken, flüchtete er sich auf die linke Seite des Balkons, warf seine Aktentasche hinunter, stieg über die Brüstung und griff nach dem Fallrohr der Regenrinne.
Begleitet von dem hämischen Lachen Fer-Blancs und dem Karnevalsgetöse rutschte er wie ein Affe das Fallrohr hinunter. Die letzten Meter sprang er. Der Aufschlag raubte ihm den Atem und schien jeden Knochen einzeln in sein Fleisch zu rammen. Er rollte sich auf dem Boden ab. Einen Moment lang standen die Polizisten, die alle Fluchtmöglichkeiten abriegelten, auf dem Kopf. Er hatte es versiebt.
Janusz presste sich an eine Scheibe und merkte, dass er weder Schmerz noch Angst empfand. Die Polizisten hatten sich umgedreht und zielten auf ihn. Im hellen Sonnenlicht erkannte er, dass die Männer zitterten und sicher mehr Angst hatten als er selbst.
In diesem Moment näherte sich eine Straßenbahn. Sie drängte sich in Janusz’ Gesichtsfeld, und statt der bewaffneten Polizisten sah er nun die verblüfften Gesichter der Passagiere. Ohne zu überlegen stand er auf, griff nach seiner Aktentasche, murmelte »Matrjoschka« und rannte so schnell er konnte auf die Karnevalsmusik zu.
Sein Leben war nichts anderes als ein gigantischer Witz.
J anusz holte die Straßenbahn ein, überquerte die Schienen unmittelbar vor dem ersten Wagen und wich einem in entgegengesetzter Richtung fahrenden Zug aus. Eine Zeitlang rannte er zwischen den beiden Straßenbahnen, bis er wenige Sekunden später nach links auswich und noch schneller wurde. Er blickte sich nicht um. Was am Hospiz passierte, interessierte ihn nicht.
Er wusste, wie es weiterging, denn er hatte das alles schon einmal erlebt. Anaïs und die anderen würden aus dem Gebäude stürmen und sich in der Avenue de la République und den angrenzenden Straßen verteilen. Man würde weitere Fahrzeuge zu Hilfe rufen, die mit heulenden Sirenen heranbrausen und ihre Fracht an Verfolgern ausspeien würden. Alle würden sich auf die Spur der gesuchten Beute setzen – und die war er.
Er erreichte einen Platz, in dessen Mitte die weiße Statue einer historischen Persönlichkeit stand. Außer Atem hielt er einen Augenblick inne. Hinter Bäumen entdeckte er das schöne alte Portal einer Kirche. Straßencafés hatten ihre Sonnenschirme aufgespannt. Er sah Fußgänger und Autos, doch niemand beachtete ihn.
Nach einer kurzen Konzentration mit auf die Knie gestützten Händen, hörte er das, worauf es ihm ankam: die Karnevalsmusik. Zwar wurde sie von Polizeisirenen übertönt, doch er konnte erkennen, woher sie kam.
Janusz bog nach rechts in eine breite Straße ab. Hatte er den Karnevalsumzug erst einmal erreicht, würde er mit der
Weitere Kostenlose Bücher