Der Ursprung des Bösen

Eltern mit Luftschlangen aus der Dose. Zwischen den Sitzreihen bewegten sich als Frösche verkleidete Tänzer mit langen, schwimmhautbewehrten Fingern. Prinzessinnen hoben ihre Röcke und entblößten Ringelstrümpfe.
    Aber das Wichtigste war der Karnevalszug.
    Eine fünf Meter hohe, monströse, blaue Sirene mit grell orangefarbenen Haaren bewegte mehrere Arme. Das Blau war so grell wie auf manchen Bildern von Yves Klein. Plötzlich kam Janusz eine geradezu absurde Erinnerung. Es war der Himmel von Nizza gewesen, der den Maler zu seinem »International Klein Blue« inspiriert hatte. Rings um die Sirene schwebten mit Helium gefüllte Quallen in der Luft. Rechts und links des Fischschwanzes der Sirene sangen zwei Wale, während kleine, als Schuppen verkleidete Mädchen an der Reling des Wagens tanzten.
    Janusz stand inmitten der Zuschauer, hatte seine Aktentasche unter den Arm geklemmt, klatschte und sang aus vollem Hals mit, während er sich gleichzeitig vorsichtig umschaute. Im Augenblick konnte er weder eine Uniform noch eine rote Armbinde entdecken. Vor seinen Augen defilierten Tänzer, Jongleure und Majoretten unter Wolken von Luftschlangen und Konfetti. Danach kamen riesenhafte Prinzessinnen in Rot, Gelb und Blau. Ihre meterhohen Röcke verbargen jeweils einen Wagen, der es ihnen gestattete, durch den Trubel zu gleiten.
    Janusz betrachtete noch ihre geschminkten, mit einem gemalten Diadem geschmückten Gesichter, als es plötzlich überall von Polizisten wimmelte.
    Sie waren an den Tribüneneingängen, zwischen den Sitzreihen und in den Wandelgängen. Die Reihe der Uniformierten drängte sich langsam zwischen Jongleuren und Fröschen hindurch und schloss sich wie ein Schraubstock. Verzweifelt stürzte sich Janusz in den Umzug und landete mitten in einer Gruppe von Akrobaten, die auf ihrem Rücken bunte Vogelfiguren trugen. Man würde ihn also sozusagen in einer Voliere verhaften.
    In seiner Panik lief er entgegen der Zugrichtung auf den nächsten Motivwagen zu. Er stellte das überdimensionale Kerngehäuse eines Apfels dar, das sich wie ein Kettenkarussell drehte. Auf den Schaukeln saßen Puppen, die halb wie Menschen, halb wie Nagetiere aussahen. Das Verblüffende an der Darstellung war, dass die Gesichter der Figuren denen echter Menschen nachgebildet waren, die unter dem Karussell als Ratten verkleidet tanzten.
    Und dann geschah etwas Unglaubliches.
    Unter den Ratten mit Menschenköpfen, die auf Schaukeln um ihr Kerngehäuse flogen, entdeckte Janusz eine Puppe, die seine Gesichtszüge trug – grotesk, deformiert und rattenartig verändert, aber es war sein Gesicht.
    Während er noch verblüfft nach einer Antwort suchte, hörte er eine Stimme:
    »He, Leute, Narcisse ist da. Hier ist Narcisse!«
    Janusz blickte zu den Maskierten empor, die auf dem Wagen tanzten. Einer der Männer im Rattenkostüm zeigte mit dem Finger auf ihn.
    »Es ist wirklich Narcisse! Narcisse ist wieder da!«
    Einige begannen, den Namen zu skandieren.
    »NAR-CIS-SE! NAR-CIS-SE! NAR-CIS-SE!«
    Einer der Narren hielt ihm die Hand hin. Janusz ergriff sie, schwang sich auf den Wagen und setzte sich die Rattenmaske auf, die sein Gegenüber ihm hinhielt. Er war zur Ratte unter Ratten geworden, tanzte wie ein Verrückter und ließ sich mit Luftschlangen und Konfetti bombardieren.
    Unter seiner Maske jedoch ging er mit sich zu Rate. Janusz hatte genügend Erfahrung, um Geistesgestörte zu erkennen, und begriff, dass die Rattenmenschen krank waren. Er vermutete, dass sie aus einer Einrichtung stammten, die man am Karneval von Nizza beteiligen wollte.
    Aber nun musste er zur Kenntnis nehmen, dass er offenbar zu ihnen gehörte. Narcisse. Ein Geisteskranker, der in irgendeiner Einrichtung in Nizza lebte. Durch Zufall war ihm auf seiner Flucht eine weitere frühere Identität begegnet. Vielleicht war sie ja die ursprüngliche … Wider Erwarten empfand er eine tiefe Erleichterung. Endlich konnte er sich fallen lassen, endlich würde man sich um ihn kümmern und ihn behandeln. Das Fest war vorüber.
    Inzwischen jedoch klatschte er fröhlich zu den Klängen von Lady Gagas Bad Romance in die Hände. Die Polizei suchte ihn in der Zuschauermenge. Jeder Besucher wurde unter die Lupe genommen. Niemand dachte daran, sich um die Motivwagen zu kümmern. Schon gar nicht um den, auf dem Ratten sich um ein abgenagtes Kerngehäuse drehten.
    In diesem Augenblick entdeckte Janusz Anaïs, die sich mit der Waffe in der Hand und Tränen in den Augen durch die Zuschauer