Der Ursprung des Bösen
schiefgegangen. Gleich am Morgen hatte ein Unfall auf der A 8 sie aufgehalten, und so waren sie erst gegen 9.00 Uhr in Nizza angekommen. Bevor sie die Avenue de la République erreicht hatten und sich mit den anderen Teams absprechen konnten, waren sie von einer Gruppe überholt worden, die mit Blaulicht und offen getragenen Waffen einen auf Starsky & Hutch machte – genau das, was Anaïs unbedingt hatte vermeiden wollen.
Wenig später wurde sie zum Dreh- und Angelpunkt sämtlicher Probleme. Pascale Andreu, die Richterin aus Marseille, rief an. Gleich darauf meldete sich Philippe Le Gall, der Ermittlungsrichter aus Bordeaux. Und anschließend Deversat. Die Anrufe prasselten wie Fausthiebe auf sie nieder, und sie nahm sie hin, obwohl sie längst in den Seilen hing. In Bordeaux wartete die Aufsichtsbehörde auf sie, eine Dienstaufsichtsbeschwerde war wohl nur noch eine Frage der Zeit.
Und doch dachte sie nur an Freire. Wie immer. Bei jedem Atemzug. Ihr ganzes Leben war erfüllt von ihm.
»Und was machst du jetzt?«
Anaïs griff nach dem Päckchen mit den Fundsachen vom Tatort wie ein kleines Mädchen nach ihren Andenken vom Strand. Selbst wenn sie wirklich willens gewesen wäre, auf eine weitere Verfolgung zu verzichten, hätte sie es nicht gekonnt. Der Flüchtige war stärker als ihr Wille. Sie fühlte sich ihm völlig ausgeliefert. Anaïs spürte, wie sein Schatten in sie eindrang, sie erfüllte.
Sie zerknüllte den Plastikbecher und warf ihn in den nächsten Mülleimer.
»Ich fahre zurück nach Bordeaux.«
D u warst Maler.«
»Was für eine Art Maler?«
»Du hast Selbstporträts gemalt.«
»Das meine ich nicht. War ich Profi oder Amateur? Habe ich hier gemalt?«
»Das will ich meinen. Hier in der Villa Corto.«
Der alte Mann lächelte stolz.
»Mein Name ist Jean-Pierre Corto. Ich habe dieses Haus vor über vierzig Jahren gegründet.
»Ein Asyl für Geisteskranke?«
Das Lächeln wurde nachsichtig.
»Du kannst es nennen, wie du willst. Ich persönlich bevorzuge den Ausdruck ›Therapeutische Wohngemeinschaft‹.«
»Ich kenne diesen Quatsch zur Genüge. In einem anderen Leben war ich nämlich einmal Psychiater. Das Ding hier ist eine Klinik.«
»Nicht ganz. Wir sind hier auf eine ganz bestimmte Therapie spezialisiert.«
»Nämlich?«
»Kunsttherapie. Es ist richtig, dass es sich bei unseren Gästen um psychisch Kranke handelt, aber ihre Therapie besteht ausschließlich in der Anleitung zu künstlerischem Schaffen. Sie malen, zeichnen und bildhauern den ganzen Tag und sind wahre Künstler. Medikamente kommen hier kaum zum Einsatz.« Er lachte. »Manchmal habe ich fast den Eindruck, dass wir hier den Prozess umkehren. Unsere Gäste sind es, die durch ihr Talent der Kunst zur Genesung verhelfen und nicht etwa umgekehrt.«
»Ist Narcisse mein Familienname?«
»Das weiß ich nicht. Du hast deine Bilder immer mit diesem Namen signiert und dich nie näher darüber ausgelassen. Ausweispapiere hattest du nicht.«
Dann bin ich also ab sofort Narcisse , dachte er, und muss handeln, mich bewegen und atmen wie er .
»Wann bin ich hier aufgetaucht?«
»Anfang September 2009. Zuerst warst du in Saint-Loup, einer Klinik in der Nähe von Nizza.«
»Und wie bin ich dorthin gekommen?«
Corto setzte seine Brille auf und schaltete den Computer ein. Er war um die sechzig, klein und verhutzelt, hatte dichtes weißes Haar, aufgeworfene Lippen, die ständig zu schmollen schienen, und trug eine Brille mit dunklen Gläsern. Seine tiefe, sonore Stimme war von einer fast hypnotischen Gelassenheit.
Sie saßen in seinem Büro, einer Art Datscha in den ausgedehnten Gärten des Instituts. Dach, Boden und Wände waren aus Pinienholz, dessen starker und tröstlicher Harzgeruch den Raum erfüllte. Aus dem Fenster blickte man auf das Hinterland von Nizza. Nicht ein einziges Bild der sogenannten Gäste schmückte die Wände.
Der Karnevalsumzug war problemlos zu Ende gegangen. Er hatte mit seinen Kameraden getanzt und gesungen, bis sie die Place Masséna erreichten, wo sie von einem Transporter erwartet wurden. Wieder handelte es sich um einen Jumpy – das Fahrzeug wurde ihm fast schon zur Gewohnheit. Überhaupt erinnerten ihn seine neuen Freunde in vieler Hinsicht an die Penner in der Wärmestube, nur dass sie deutlich sauberer waren.
Im strömenden Regen hatten sie Nizza verlassen und waren aufs Land hinaus bis Carros gefahren. Die Villa lag noch einige Kilometer außerhalb des Dorfes. Von Zeit zu Zeit waren ihnen
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