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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Polizeiautos mit eingeschalteter Sirene begegnet. Er lächelte. So schnell würde man ihn nicht finden. Victor Janusz existierte nicht mehr.
    Unterwegs hatte sich das bestätigt, was er schon angesichts des Umzugs vermutete: Die Gäste der Villa Corto nahmen jedes Jahr an den Karnevalsumzügen teil. Sie entwarfen ihren eigenen Wagen, der von den Ateliers in Nizza in ihrem Auftrag gebaut wurde. Er hatte viele Fragen gestellt und so getan, als interessierte ihn die künstlerische Umsetzung der Entwürfe. Der Urheber der Idee mit den menschlichen Ratten und ihrem Karussell war er selbst gewesen – er, Narcisse, den Corto von September bis Oktober beherbergt hatte. Natürlich erinnerte er sich an nichts.
    »Da ist es ja«, sagte der alte Psychiater, als er das Patientenblatt wiedergefunden hatte. »Du wurdest Ende August neben der Ausfahrt 42 der Autobahn A 8 gefunden. Die Ausfahrt heißt Cannes-Mougins. Du hattest das Gedächtnis verloren. Im Krankenhaus von Cannes wurdest du untersucht. Du warst nicht verletzt, wolltest dich aber um keinen Preis röntgen lassen. Man schickte dich nach Saint-Loup, wo nach und nach einige Erinnerungen zurückkehrten. Du sagtest, dein Name sei Narcisse, du kämst aus Paris, hättest keine Familie und wärst Maler. Die Ärzte in Saint-Loup haben natürlich sofort an uns gedacht.«
    »Ich bin nicht Narcisse«, erklärte er trocken.
    Corto setzte die Brille ab und lächelte wieder. Seine Art, sich wie ein gütiger Opa zu geben, machte seinen Gast ganz kribbelig.
    »Ich weiß. Ebenso wenig wie du der bist, der du heute zu sein vorgibst.«
    »Kennen Sie meine Krankheit?«
    »Als du hier ankamst, hast du mir eine Menge erzählt. Zum Beispiel von den Kunstakademien, die du besucht hast, den Galerien, wo du ausgestellt hast, und von deiner Wohnung in Paris. Auch von einer Hochzeit und einer Scheidung hast du gesprochen. Ich habe alles überprüft. Nichts davon stimmte.«
    Er genoss die Ironie der Situation. Corto hatte genau die Rolle gespielt, die er selbst bei Patrick Bonfils eingenommen hatte. Bei jeder psychischen Flucht fand sich ein Psychiater, der feststellen musste, dass die vermeintliche Hülle leer war.
    »Und doch war an deiner Geschichte etwas Wahres«, fuhr der alte Mann fort. »Du bist wirklich Maler. Du hast nicht nur eine erstaunliche Begabung an den Tag gelegt, sondern kanntest dich auch mit der handwerklichen Seite bestens aus. Ich habe jedenfalls keine Sekunde gezögert, dich aufzunehmen. Leider muss man sagen, dass niemand dich wirklich wollte. Ohne Papiere und ohne Sozial- oder Krankenversicherung warst du nicht gerade das, was man ein Geschenk nennt.«
    »Hat man denn überhaupt versucht herauszufinden, woher ich kam?«
    »Natürlich wurden Nachforschungen angestellt, allerdings ohne großen Eifer. Du warst nicht gerade eine kriminologische Herausforderung, sondern einfach nur ein armer Schlucker mit psychischen Problemen, der weder seinen Namen noch seine Herkunft kannte. Und so hat man auch nichts gefunden.«
    »Und wie ging es dann weiter?«
    »So.«
    Corto drehte den Monitor so, dass Narcisse, der ihm gegenüber am Schreibtisch saß, ihn sehen konnte.
    »Innerhalb von zwei Monaten hast du etwa dreißig Bilder gemalt.«
    Narcisse hatte nichts Bestimmtes erwartet, aber was er sah, überraschte ihn doch sehr. Jedes der Bilder, die nacheinander auf dem Bildschirm auftauchten, stellte ihn selbst in einem anderen Kostüm dar. Als Admiral, als Briefträger, als Clown, als römischen Senator. Immer war er gleich alt und nahm die gleiche Stellung im Dreiviertelprofil mit herausgedrückter Brust und nach vorn gerichtetem Kinn ein. Auf jedem Bild hatte man den Eindruck, einen Helden zu bewundern.
    Und doch gab es im Aufbau einen Kontrast. Einerseits erinnerten die Bilder an die Art von Kunst, die in Diktaturen gepflegt wird, denn die Darstellung aus der Froschperspektive zeigte Narcisse in einer sehr beherrschenden Stellung. Im Gegensatz dazu wies das Gesicht eine geradezu ins Groteske spielende Ausdruckskraft auf, die sich eher an der in Deutschland während der 1920er Jahre entstandenen Neuen Sachlichkeit orientierte und stilistisch an Otto Dix oder Georg Grosz gemahnte. Diese Künstler hatten sich entschieden, die Realität ungeschminkt darzustellen und auch Hässlichkeit zu malen, um der bürgerlichen Heuchelei entgegenzutreten.
    Narcisses Gesichter wiesen einen sarkastischen, fast grimassenhaften Ausdruck auf, die kräftigen Farben wurden fast immer von Rot dominiert. Die

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