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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Über ein Gefäß gebeugt knetete er eine Art warmen, weichen Teer. Immer noch lachte er unter seiner Maske.
    »Karl hat ein Geheimnis«, murmelte der Psychiater. »Er mischt die Farben mit seinem Sperma, weil er glaubt, dass seine Gemälde dadurch ein verborgenes Leben erhalten.«
    Narcisse beobachtete die großen Hände, die die schwarze Masse durchwalkten, und stellte sich vor, wie sich der Künstler mit den gleichen Händen einen herunterholte. Hier zeigte sich ein eindeutiger Vorteil von Cortos Kunsttherapie: Die Libido wurde nicht unterdrückt. Die mit Psychopharmaka ruhiggestellten Patienten in Henri-Ey waren viel zu benommen gewesen, um noch Lust zu verspüren.
    Er betrachtete eines der ganz und gar schwarzen Gemälde.
    »Und was soll es darstellen?«
    »Das Nichts. Wie viele Übergewichtige leidet Karl unter Schlafapnoe. Er hört auf zu atmen, träumt nicht mehr und stirbt in gewisser Weise. Und diese schwarzen Löcher versucht er darzustellen.«
    Bei näherem Hinsehen entdeckte Narcisse eine winzige, reliefartige Schrift, die man eigentlich wie Blindenschrift nur mit den Händen lesen konnte.
    »Aber das ist doch kein Deutsch, oder?«
    »Nein, aber auch keine andere bekannte Sprache.«
    »Eine Sprache, die er selbst erfunden hat?«
    »Er sagt, es ist die Sprache, die die Stimmen sprechen, die während seiner Apnoe mit ihm reden, wenn er sich auf dem Grund des Todes wähnt.«
    Karl lachte unter seiner Maske fröhlich vor sich hin. Seine Hände fuhrwerkten hektisch in der Farbe herum, die über die Ränder des Beckens schwappte.
    »Lass uns gehen«, flüsterte Corto. »Er wird nervös, wenn Besucher zu lange bleiben.«
    Auf dem Flur fragte Narcisse:
    »Warum saß er in Leipzig in der Anstalt? Was genau fehlt ihm?«
    »Ehrlich gesagt war er im Gefängnis. In der Sicherungsverwahrung. Er hatte seiner Frau die Augen ausgekratzt und behauptet, sie wäre sein erstes Kunstwerk, weil sie nun immer Dunkelheit um sich habe.«
    »Kriegt er Medikamente?«
    »Nein.«
    »Irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen?«
    »Wir achten darauf, dass seine Fingernägel immer kurz geschnitten sind. In Deutschland hat es einmal ein Problem mit einem Pfleger gegeben.«
    Narcisse war entsetzt, wie jeder Psychiater es gewesen wäre. Seiner Ansicht nach spielte Corto mit dem Feuer. Es überraschte ihn, dass die Behörden ihn gewähren ließen.
    Im nächsten Atelier arbeitete eine Frau, die mindestens siebzig war. Sie trug einen rosa Hausanzug von Adidas, hatte bläulich gefärbtes Haar und wirkte ausgesprochen gepflegt – eine typische amerikanische Rentnerin. Das Atelier entsprach in seiner makellosen Ordnung dem Bild der perfekten Hausfrau, bis auf die Tatsache, dass die alte Dame eine Zigarette zwischen die schmalen Lippen geklemmt hatte.
    Weder der Deutsche noch die Frau waren auf dem Karnevalswagen in Nizza gewesen. Vermutlich war der eine aufgrund seines Gewichtes und die andere wegen ihres Alters in der Villa geblieben.
    »Hallo, Rebecca. Wie fühlen Sie sich?«
    »Der Zoll macht Probleme«, erwiderte sie mit brüchiger Stimme. »Es geht um die Einfuhr meiner Werke.«
    Sie beugte sich über ein Blatt Papier und zeichnete immer wieder das gleiche Gesicht mit einem winzigen Bleistift, den sie zwischen zwei Fingern hielt. Um das Werk in seiner Gesamtheit zu sehen, musste man ein paar Schritte zurücktreten. Tausende Gesichter fügten sich zu einer Art Intarsienarbeit zusammen und bildeten Wellen, Ornamente und Arabesken.
    »Geht es mit der Arbeit voran?«
    »Heute Morgen wurde ich in die Toilette geschubst. Das Fleisch gestern war nicht gemischt.«
    Ganser-Syndrom . Die Dame litt an einer eher seltenen Störung, für die das Vorbeiantworten typisch ist. Narcisse fiel auf, dass er angesichts dieser Künstler immer noch wie ein Psychiater reagierte. Er bewunderte nicht ihre Werke, sondern konzentrierte sich auf ihr Krankheitsbild. Obwohl er sich Mühe gab, war er nicht wirklich Narcisse. Er blieb Mathias Freire.
    »Das Gesicht kenne ich doch«, meinte er und deutete auf den hundertfach wiederholten Kopf auf der Zeichnung.
    »Es ist Albert von Monaco.«
    Die Antwort kam von Corto, denn die Frau war tief in ihre Arbeit versunken.
    »Vor etwa dreißig Jahren arbeitete Rebecca im monegassischen Fürstenpalast als Haushälterin und hat sich mehr oder weniger unbewusst in den Prinzen verliebt. Von diesem affektiven Trauma hat sie sich nie erholt. Seit 1983 lebt sie in psychiatrischen Kliniken, erst in Saint-Loup, später dann bei uns.«
    Narcisse

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