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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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warf ihr einen Blick zu. Rebecca arbeitete geradezu mechanisch, als führte ihr eine unsichtbare Kraft die Hand. Nie hob sie den Stift, niemals fuhr sie ein zweites Mal über einen Strich. Die Linie war der rote Faden ihrer Störung.
    Corto hatte das Atelier bereits verlassen.
    »Stimmt es, dass Sie in ganz Europa auf Talentsuche gegangen sind?«, fragte Narcisse, nachdem er ihn eingeholt hatte.
    »Richtig. Ich bin dem Beispiel des Deutschen Hans Prinzhorn und des Österreichers Leo Navratil gefolgt. Ihnen ist zu verdanken, dass es so etwas wie Art Brut überhaupt gibt.«
    »Was genau ist Art Brut?«
    »Ein Sammelbegriff für autodidaktische Kunst von Laien, Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung. Die Bezeichnung stammt von Jean Dubuffet. Die Engländer nennen sie auch ›Outsider Art‹, weil sie weder Konventionen noch äußeren Einflüssen folgt. Sie ist wirklich und wahrhaftig frei. Erinnerst du dich an das, was ich dir gesagt habe? ›Nicht die Kunst hilft uns – wir helfen der Kunst.‹«
    Corto betrat das dritte Atelier. Hier waren große Bleistiftzeichnungen zu sehen, die langgezogene, weibliche Gestalten darstellten, welche auf Regenbogen ritten, in Gewitterhimmeln badeten oder auf Wolken schlummerten. Die Blätter hingen zwar an der Wand, doch die Zeichnungen erstreckten sich über die Ränder hinaus, als ob der schöpferische Impuls mit dem Künstler durchgegangen wäre.
    »Hier arbeitet Xavier«, erklärte Corto. »Er ist seit acht Jahren bei uns.«
    Auf einer Liege saß ein etwa vierzigjähriger Mann vor einem kleinen Tisch. Er trug einen Kampfanzug. Die Aggressivität seiner Kleidung wurde dadurch gemindert, dass in seinen Taschen Farbstifte steckten und dass er alte Espadrilles an den nackten Füßen trug. In regelmäßigen Abständen verzerrte ein zwanghafter Tick sein Gesicht.
    »Xavier glaubt, in der Fremdenlegion gewesen zu sein«, flüsterte Corto, während der Mann einen Stift nahm und ihn in den am Tisch befestigten Anspitzer steckte. »Er ist der Überzeugung, mit der Division Daguet am Golfkrieg teilgenommen zu haben.«
    Narcisse bemühte sich, ein Gespräch mit dem Künstler in Gang zu bringen.
    »Ihre Bilder sind sehr schön.«
    »Das sind keine Bilder. Es sind Schutzschilde.«
    »Schutzschilde?«
    »Ja. Gegen Krebszellen, Bakterien und die ganze biologische Scheiße, die quer durch die Welt auf mich abgefeuert wird.«
    Corto ergriff Narcisse am Arm und führte ihn ein Stück weiter.
    »Xavier glaubt, im Irak einem Chemieangriff ausgesetzt gewesen zu sein. In Wirklichkeit ist er nie dort gewesen. Als er siebzehn war, hat er seinen kleinen Bruder, der auf seinen Schultern saß, in einen Fluss mit sehr starker Strömung geworfen. Das Kind ist ertrunken. Als Xavier nach Hause kam, wusste er nicht, was mit seinem kleinen Bruder geschehen war. Er erinnerte sich an nichts. Fünfzehn Jahre saß er in einer Anstalt für psychisch gestörte Gewalttäter, ehe ich ihn hier unterbringen konnte.«
    »Einfach so? Ohne besondere Sicherheitsauflagen?«
    »Während der gesamten Zeit in der Anstalt hat Xavier nie Probleme bereitet. Die Experten haben daraufhin entschieden, dass sie ihn mir anvertrauen können.«
    »Mit welchen Medikamenten wird er behandelt?«
    »Er nimmt keine Medikamente. Seine Zeichnungen beschäftigen sowohl seinen Körper als auch seinen Geist.«
    Wohlwollend betrachtete der Psychiater seinen Patienten, der mit fiebrigem Blick einen Stift nach dem anderen anspitzte. Narcisse hüllte sich in ein vorwurfsvolles Schweigen.
    »Nun schau doch nicht so«, beschwichtigte Corto ihn schließlich. »Hier bei uns kommt es so gut wie nie zu großen Krisen. Es gibt weder Aggressionen noch Selbsttötungen. Die Malerei wirkt der Geisteskrankheit entgegen, stumpft aber im Gegensatz zu Neuroleptika nicht ab. Die Kunst gibt meinen Patienten neue Kraft. Sie ist ihr einziger Halt. Glaub mir, an den Besuchstagen herrscht hier nicht gerade Massenandrang. Keiner meiner Patienten bekommt jemals Besuch. Man hat sie vergessen. Niemand liebt sie. Und jetzt komm. Die Besichtigung geht weiter!«

D ie Wache der Gendarmerie von Bruges wirkte so tot wie der Friedhof des Städtchens. Vielleicht sogar noch ein bisschen toter, denn auf dem Friedhof bekommt man zumindest am Sonntag manchmal Besuch. Als Anaïs eintrat, war sie übelster Laune. Nach dem nutzlosen Treffen mit ihrem Vater hatte sie zusammen mit Le Coz Bilanz gezogen. Sie brauchten nicht lange. Es gab keine heiße Spur. Die Ermittlungen in den

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