Der Ursprung des Bösen
kühlen Kuss auf die Wange. Der Mann war den Tränen nahe. Anaïs musste sich zusammenreißen, um nicht ebenfalls von ihren Emotionen überwältigt zu werden.
»Sag ihm Bescheid.«
Nicholas drehte sich um. Anaïs blieb noch einige Sekunden auf der Schwelle stehen. Sie konnte sich kaum aufrecht halten. Angesichts der bevorstehenden Konfrontation hatte sie sich zwei ganze Lexomil gegönnt. Sie war so zugedröhnt, dass sie am Steuer beinahe eingeschlafen wäre.
Der Adjutant kehrte zurück und machte ihr ein kurzes Zeichen. Weder sagte er etwas, noch begleitete er sie. Es gab nichts zu sagen, und den Weg kannte sie. Sie durchquerte den ersten Saal, anschließend den zweiten. Ihre Schritte hallten wie in einer Kirche. Es war kalt und roch nach Rauch. Abgesehen von Holzfeuern im Kamin lehnte ihr Vater jede Form von Heizung ab.
Schließlich betrat sie das Gobelinzimmer. Der Raum wurde so genannt, weil an seinen Wänden Tapisserien aus Aubusson hingen, die so dunkel waren, dass die dargestellten Szenen wie im Nebel erschienen.
Und dann stand sie vor ihrem Vater, der im Licht eines Sonnenstrahls dasaß und sich dem geheiligten Ritual des sonntäglichen Frühstücks widmete. Er war immer noch so schön wie früher. Sein dichtes, seidiges Haar leuchtete weiß. Seine Züge erinnerten an die sanften Kiesel auf dem Grund eines Wildbachs, die von Tausenden Schmelzwasserfluten und ebenso vielen quicklebendigen Frühlingstagen langsam rund poliert worden waren. Die Augen strahlten lagunenblau und bildeten einen auffälligen Kontrast zu seiner dunklen, immer gebräunten Haut. Jean-Claude Chatelet sah aus wie ein alternder Playboy in Saint-Tropez.
»Leistest du mir Gesellschaft?«
»Warum nicht?«
Ruhig nahm sie Platz. Danke, Lexomil .
»Tee?«, erkundigte er sich mit seiner tiefen Stimme.
Nicholas hatte bereits für eine Tasse gesorgt. Ihr Vater griff nach der Teekanne. Anaïs sah zu, wie die kupferfarbene Flüssigkeit in ihre Tasse rann. Ihr Vater trank ausschließlich Keemun, den er aus der Provinz Anhui im Osten Chinas importieren ließ.
»Ich habe dich erwartet.«
»Wieso?«
»Die Leute von Mêtis haben mich angerufen.« Er setzte die Teekanne ab.
Anaïs war also auf dem richtigen Weg. Sie griff nach einem Stück Brot und dem silbernen Messer ihres Vaters. Für Sekundenbruchteile sah sie sich in der glänzenden Klinge. Langsam strich sie Butter auf die perfekt golden getoastete Scheibe – ebenfalls eine der Marotten ihres Vaters.
»Ich höre dir zu«, murmelte sie.
»Ein wahrer Christenmensch stirbt nicht in seinem Bett«, begann er hochtrabend. »Der wahre Christ beschmutzt sich die Hände zum Heil seiner Mitmenschen.«
Trotz der vielen in Chile verbrachten Jahre hatte er den Dialekt des Südwestens beibehalten.
»So wie du?«
»So wie ich. Die meisten Schwächlinge, also Leute, die nichts tun, sich aber immer zum Richter aufwerfen, sind der Meinung, dass die Soldaten der totalitären Regime grundsätzlich Sadisten sind und dass es ihnen Spaß macht zu foltern, zu vergewaltigen und zu töten.«
Er hielt einen Moment inne. Die Sonne war weitergewandert. Der alte Mann saß nicht mehr in der Sonne, sondern im tiefen Schatten. Nur seine Augen strahlten mit ungewöhnlicher Intensität.
»Sadisten und Perverse habe ich nur am untersten Ende der Leiter angetroffen. Und selbst dort wurde eine solche Haltung immer bestraft. Niemand hat aus Vergnügen so gehandelt. Auch nicht aus Machtgefühl oder um des Geldes willen.«
Er log. Sinnlose und bösartige Übergriffe gab es in allen Kriegen und Diktaturen, in allen Klimazonen und Epochen.
Dennoch spielte sie das Spiel mit und stellte die Frage, die er erwartete.
»Warum dann?«
»Für das Vaterland. Alles, was ich getan habe, geschah, um Chile zu schützen.«
»Wir sind uns aber doch einig, dass wir hier von Folter sprechen, oder?«
Chatelets weiße Zähne erstrahlten im Halbdunkel des Zimmers. Er lachte lautlos.
»Ich habe mein Land vor dem schrecklichsten aller Gifte geschützt.«
»Vor was denn? Dem Glück? Der Gerechtigkeit? Der Gleichheit?«
»Vor dem Kommunismus.«
Anaïs seufzte und biss in ihren Toast.
»Ich bin nicht gekommen, um mir solchen Mist anzuhören. Erzähle mir von Mêtis.«
»Aber ich bin bereits dabei, von Mêtis zu sprechen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Auch dieses Unternehmen handelt aus Glauben, Pflichtgefühl und Patriotismus.«
»So wie damals, als sie tonnenweise neurotoxisches Gas an den Irak verkauft haben?«
»Du solltest
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