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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Bett.«
    »Schon kapiert. Und du? Wo stirbst du?«
    Er lachte, stand mühsam auf, griff nach seinem Gehstock und humpelte zum Fenster. Als Anaïs klein war, hatte ihr der Anblick seines schwerfälligen Gangs immer wehgetan. Stolz betrachtete er die Reben, die im eisigen Winterlicht zu brennen schienen.
    »In meinen Weinbergen«, murmelte er. »Ich möchte von einer Kugel getroffen zwischen meinen Reben sterben.«
    »Und wer soll schießen?«
    Langsam drehte er sich um und zwinkerte ihr zu.
    »Wer weiß. Vielleicht du?«

D ie Crossover-Studie hatte nichts ergeben – außer brennenden Augen, einem Krampf in der Hand und einer leichten Übelkeit. Auch der schmerzende Punkt hinter seiner linken Augenhöhle machte ihm wieder zu schaffen. Sein Kopf schwirrte von Namen, doch er hatte keine Gemeinsamkeiten zwischen den Medizinstudenten und den Absolventen der Kunsthochschulen finden können. Ein echter Flop!
    Er zerknüllte seine letzte Liste und warf sie in den Papierkorb. Es war fast Mittag. Den ganzen Morgen hatte er vertan. Etwas Positives gab es dennoch: Niemand hatte ihn gestört, obwohl in den Nachbarräumen die typische Geräuschkulisse psychiatrischer Anstalten zu hören war – verzweifelte Stimmen, Geheul, sanftes Geflüster, Lachen und schlurfende Schritte.
    Zumindest hatte dieser Vormittag ihm gezeigt, wo er wirklich stand. Er war der Polizei entkommen, aber an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. Mit einem Unterschied: Jetzt war er nicht mehr der Arzt, sondern der Patient.
    »Wir haben dich schon überall gesucht!«
    An der Tür stand Corto.
    »Gleich gibt es Mittagessen. Wir haben gerade noch Zeit, die Ateliers zu besichtigen.«
    Narcisse war ihm dankbar, dass er kein Wort über die Stunden verlor, die er im Computerraum verbracht hatte. Sie gingen den Flur entlang zurück in die Kantine, einem großen Raum mit Edelstahltischen, die von zwei stämmigen Pflegern mit Plastikgeschirr und -besteck eingedeckt wurden.
    »Hier bist du.«
    Corto zeigte auf ein Gruppenfoto, das an der Wand hing. Narcisse trat näher und erkannte sich. Er trug einen Künstlerkittel, der gut ins 19. Jahrhundert gepasst hätte, und wirkte ausgesprochen jovial. Auch die anderen lachten; irgendwie wirkten alle ein bisschen schräg.
    »Dieses Foto haben wir an Karls Geburtstag am 18. Mai aufgenommen.«
    »Wer ist Karl?«
    Der Psychiater wies auf einen großen, vergnügten Mann neben Narcisse. Er trug eine Lederschürze und schwenkte einen Pinsel, an dem schwarze Farbe klebte. Alles in allem wirkte er wie ein mittelalterlicher Schmied.
    »Komm mit. Ich stelle ihn dir vor.«
    Sie gingen einen weiteren Flur entlang, der zu einer Feuerschutztür führte, verließen das Gebäude und stiegen die Treppe zum nächsten, tieferliegenden Haus hinunter.
    Sie betraten das angrenzende Gebäude, gingen an der ersten Etage mit den Schlafzimmern vorbei und begaben sich ins Erdgeschoss. Corto klopfte an die erste Öffnung – eine Tür gab es nicht – und wartete die Antwort ab.
    »Herein!«
    Narcisse hielt auf der Schwelle kurz inne. Das Atelier war von der Decke bis zum Boden schwarz gestrichen. An der Wand hingen ebenfalls monochrome schwarze Bilder. In der Mitte des Zimmers stand der wuchtige Mann vom Gruppenfoto, der in Lebensgröße sicher an die zwei Meter maß und hundertfünfzig Kilo auf die Waage brachte. Er trug eine Lederschürze, die wie mit Wichse eingeschmiert aussah.
    »Hallo, Karl. Geht’s dir gut?«
    Der große Mann verneigte sich lachend. Er trug eine Atemschutzmaske. Im gesamten Raum stank es nach Chemie.
    Corto wandte sich an Narcisse.
    »Karl ist Deutscher und hat nie richtig Französisch gelernt. Zu Zeiten der DDR saß er in einer Anstalt in der Nähe von Leipzig. Als ich nach dem Mauerfall auf der Suche nach neuen Talenten in Ostdeutschland herumreiste, habe ich Karl kennengelernt. Trotz Strafen, Elektroschocks und allen möglichen anderen Maßnahmen versteifte er sich darauf, alles schwarz anzumalen, was ihm in die Hände geriet. Damals benutzte er dafür hauptsächlich Kohle.«
    »Und jetzt?«
    »Oh, er hat sich zu einer richtigen Diva entwickelt«, lachte Corto. »Kein einziges Produkt stellt ihn zufrieden. Für seine monochromen Bilder experimentiert er mit Mischungen auf der Basis von Anilin und Indanthren und bombardiert mich mit ganzen Listen unaussprechlicher chemischer Produkte. Er sucht nach der absoluten Nicht-Farbe, nach etwas, das Licht komplett absorbiert.«
    Der Muskelprotz hatte sich wieder an die Arbeit begeben.

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