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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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der Frühgeschichte der Menschheit bestimmt, von Mythen, Sagen und primitiven Ängsten, die er Archetypen nannte. Wenn dann irgendetwas, ein Bild, ein Detail, was auch immer, uns an eines dieser Raster erinnert, fühlen wir uns tief ergriffen und manchmal von Emotionen überwältigt, die über uns hinausgehen, weil sie Teil der gesamten Menschheit sind.«
    Corto sprach mit mitreißender, fast hypnotischer Stimme.
    »Und weiter?«
    »Ich glaube, dass solche Archetypen auch für unseren Körper existieren. Physiologische Archetypen. Das Meer, der Wald, Steine, der Himmel. Dinge, die uns bewegen und transzendieren. Sobald wir sie berühren, erwacht unser Körper mit einem Schlag. Unser Fleisch erinnert sich, dass es einst Meer, Wald, Stein oder Stern gewesen ist, und unsere Zellen reagieren.«
    Corto packte ihn heftig an der Schulter.
    »Suche deine Bilder«, murmelte er. »Geh nach Paris. Ich weiß, dass du das vorhast. Sobald du mit deinen Bildern und der Stadt Kontakt aufnimmst, wird dein Körper dich leiten. Die Malerei und die Stadt gehören zu deiner Geschichte, und in gewisser Weise gehörst du zu ihrer.«
    Narcisse verstand, was Corto ihm sagen wollte. Er schloss die Augen und begann, es auszuprobieren. Hingebungsvoll ließ er sich von den feuchten Dünsten des Gartens, dem Rauschen der Baumkronen, das ihn an das Meer erinnerte, und dem Geruch der kalten, uralten Berge durchdringen. Wogen durchfluteten ihn. Er wurde zum Sand, den nackte Füße im Regen zermalmten, zum Surren von Insekten in einem heißen Land, in dem die Sonne niemals unterging, zum Knirschen von frisch gefallenem Schnee unter gleitenden Skiern. Er atmete, lachte und küsste. Sein gesamter Körper verschmolz mit dem Glanz eines goldenen Sommerabends, den er mit einer schönen Frau in einem großen, gediegenen Salon verbrachte.
    Als er die Augen öffnete, war Corto verschwunden.
    Von den unteren Terrassen her hörte er jedoch das sehr reale Geräusch von Schritten. Er spähte in die Dunkelheit. Weiter unten bewegten sich die Kakteen. Sein Herz setzte einen Schlag aus.
    Was sich dort unten bewegte, waren keine Kakteen. Es waren die Totengräber in ihren schwarzen Anzügen.
    Ohne Rücksicht stapften sie vorwärts. Sie trampelten Pflanzen nieder, bogen andere mit den Armen beiseite. In der Dunkelheit erkannte Narcisse das V ihrer bis oben zugeknöpften Westen. Beide hielten eine Waffe mit Schalldämpfer in der Hand. Sofort fiel ihm ein, dass die Glock noch in seinem Zimmer lag.
    Die Männer betraten den Weg und warfen einen Blick nach oben zu den ersten Gebäuden. Narcisse war längst im Dickicht verschwunden. Er empfand die Szene als eine Art Déjà-vu: Es war wie vor einigen Tagen in Marseille, als er die Bande von der Treppe aus beobachtete.
    Die Männer begannen den Aufstieg. Narcisse, von Buschwerk geschützt, legte die letzten Meter zurück, die ihn noch von den Ateliers trennten. Glücklicherweise trug er dunkle Sachen, denn so verschmolz er mit den Bäumen und der Dunkelheit.
    Hastig huschte er den Laufgang vor den Ateliers entlang, denn er erinnerte sich, seine Terrassentür offen gelassen zu haben. Er glitt ins Innere. Der solide Zementboden gab ihm Sicherheit. Lautlos verriegelte er die Tür und holte tief Luft.
    Dann trat er in den Flur hinaus. Wenn er sich richtig erinnerte, gab es eine Außentreppe, die zu den Schlafzimmern hinaufführte. Das Gebäude war verwaist. Zum Abendessen hatten sich alle im Nebenhaus versammelt.
    Als er seine Zelle erreicht hatte, ließ er die Hand unter die Matratze gleiten, wo er seine Waffe versteckt hatte. Auch die Akte Ikarus, das Eickhorn-Messer und das Notizbuch von Narcisse waren dort untergebracht. Seine einzigen Schätze und sein einziges Gepäck.
    Er steckte die Automatikpistole hinten in den Gürtel, das Messer in die Tasche und die Dokumente in sein Jackett, das er über das Hemd zog. Die Anzughose rollte er zusammen; er würde sie erst später wieder anziehen.
    Ehe er den Flur betrat, spähte er nach rechts und links, sah jedoch niemanden. Sein Herz schlug bis zum Hals. Es war bereits zu spät, die Treppe zu nehmen. Vorsichtig schlich er in die entgegengesetzte Richtung. Am Ende des Flurs war ein Fenster. Er öffnete es und ließ sich auf die Brüstung gleiten, die an der Außenmauer entlanglief. Drei Meter über dem Erdboden. Sollte er springen? Es war möglich, wenn er versuchte, auf die belaubten Bäume zuzuhalten.
    Ergeben schloss er die Augen und sprang. Der Sturz schien Ewigkeiten zu

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